Gastautor: Icecube
Eine Tragödie in biologischen Akten
Heinrich Kreatikus war ein Mann von außergewöhnlicher geistiger Kapazität – zumindest nach seiner eigenen, überaus fundierten Einschätzung. Während sich der gewöhnliche Pöbel mit trivialen Beschäftigungen wie produktiver Arbeit oder erholsamem Schlaf die Zeit vertrieb, widmete sich Heinrich den wahrhaft wichtigen Dingen: dem Nachdenken über die fundamentalen Ungerechtigkeiten eines offensichtlich schlecht programmierten Universums. An diesem besonderen Morgen jedoch erreichte ihn eine Erleuchtung von solcher Wucht, dass sie ihn aus den Federn katapultierte wie einen defekten Schleudersitz.
"Heureka!", verkündete er dem morgendlichen Dämmerlicht mit der Grandezza eines Operntenors auf Entzug, während sein Nachthemd im imaginären Wind seiner eigenen Genialität dramatisch wehte. Endlich – endlich! – hatte er das ultimative Geschäftsmodell entdeckt, jenes goldene Ticket zum mühelosen Reichtum, nach dem er sein ganzes Leben gesucht hatte.
Heinrich warf sich an seinen Computer mit der Inbrunst eines Missionars, der Heiden bekehren will. Ein Roman! Selbstverständlich! Ein literarisches Meisterwerk, das ihm bis ans Ende seiner Tage royale Tantiemen bescheren würde. Jeden Monat würde das Geld auf sein Konto sprudeln wie ein artesischer Brunnen, während er in seiner Hängematte philosophierte und sich über die bedauernswerte Naivität der arbeitenden Massen mokierte.
Die rechtlichen Grundlagen waren geradezu bestechend in ihrer Einfachheit: Das deutsche Urheberrecht gewährte geistigem Eigentum Schutz für siebzig Jahre nach dem Ableben des Urhebers. Siebzig herrliche Jahre! Das bedeutete nicht nur lebenslangen Wohlstand für Heinrich persönlich, sondern auch für seine hypothetischen Nachkommen – eine wahre Goldmine für Generationen!
Heinrich stürzte sich an seinen Computer. Seine Geschichte handelte von einem gewissen Klaus, einem Mann von bemerkenswert innovativem Geschäftssinn, der eine revolutionäre Idee verfolgte: Er wollte seine sämtlichen biologischen Produktionen rechtlich schützen lassen. Nicht nur seine literarischen oder musikalischen Werke, sondern buchstäblich alles, was sein Körper so hervorbrachte. Schließlich war es sein ureigenes geistiges und körperliches Eigentum – wer könnte da widersprechen?
Klaus, dieser Visionär, marschierte also schnurstracks zum Patentamt und forderte mit der Überzeugung eines Eroberers, seine täglichen Ausscheidungen als intellektuelles Eigentum registrieren zu lassen. "Das ist mein Produkt", erklärte er dem zusehends verstörten Beamten mit professoraler Autorität, "entstanden durch meine höchst individuelle Verdauung und meinen einzigartigen, nicht reproduzierbaren Stoffwechsel!" Der Beamte, ein Mann von erschreckend begrenzter Vorstellungskraft, verwies ihn mit der Höflichkeit eines Diplomaten an die psychiatrische Abteilung des nächstgelegenen Krankenhauses.
Heinrich gluckte vergnügt beim Schreiben. Welch köstliche Absurdität! Doch plötzlich stockten seine Finger über der Tastatur wie eingerostete Maschinerie. Ein Moment der Erkenntnis durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag. Moment mal... gab es nicht tatsächlich etwas im realen Leben, bei dem diese geradezu perversen Eigentumsregeln galten? Etwas, das ein Mann bereitwillig hergab, dabei sämtliche Rechte verlor, aber dennoch lebenslang dafür zur Kasse gebeten wurde?
Ein kalter Schauer rieselte seinen Rücken hinunter wie Eiswasser durch eine undichte Regenrinne, als ihm die brutale Realität mit der Subtilität eines Vorschlaghammers ins Bewusstsein eindrang. Da war tatsächlich etwas. Etwas sehr, sehr Kleines, aber mit Konsequenzen von kosmischen Ausmaßen. Heinrich dachte wehmütig an seinen Kumpel Markus zurück, einst der strahlende Optimist ihres Freundeskreises, heute ein wandelndes Mahnmal für schlechte Lebensentscheidungen. Markus hatte vor drei Jahren noch geprahlt wie ein Börsenmakler im Bullenmarkt: Er habe "sein bestes Stück" in eine vielversprechende Beziehung investiert. Heute saß Markus allabendlich in ihrer Stammkneipe, starrte mit der Intensität eines Mystikers in sein Bier und murmelte melancholische Weisheiten wie: "Ich dachte, ich tätige eine Investition, aber herausgekommen ist ein verdammtes Abonnement."
Die Sache war nämlich folgende – und Heinrich musste unwillkürlich über die diabolische Eleganz des Systems staunen: Markus hatte großzügig seine biologische Kreativität geteilt, seine genetische Signatur sozusagen „open source“ gestellt. Neun Monate später war ein kleines Menschlein entstanden – zweifellos ein Meisterwerk der Natur, ausgestattet mit Markus' durchaus respektablen Genen und seiner Ex-Freundin Brunhildes... nun ja, sagen wir diplomatisch: ihrer umfassenden Sammlung charakterlicher Eigenarten und Neurosen.
Heinrich richtete sich auf wie ein Detektiv, der soeben den entscheidenden Hinweis entdeckt hat. Das war ja der absolute Gipfel der Ironie! Hier war ein Mann, der etwas wahrhaft Einzigartiges, Unverwechselbares, Unersetzliches produziert hatte. Seine DNA! Seine genetische Signatur! Ein biologisches Unikat entstanden durch Jahrmillionen der Evolution und verfeinert durch unzählige Generationen seiner Vorfahren! Ein Werk, das jedes Kunstwerk der Geschichte in den Schatten stellte!
Und was geschah mit diesem kostbaren, unwiederbringlichen Gut? Sobald Markus es "auf den Markt" gebracht hatte, gehörte es ihm nicht mehr. Brunhilde hatte die alleinige Verfügungsgewalt über das Produkt erhalten, als wäre sie die CEO eines Unternehmens, an dem Markus zwar sämtliche Entwicklungskosten getragen, aber null Komma null Anteile erhalten hatte.
Sie entschied über die Produktionsbedingungen, die Qualitätsstandards, die Markteinführung, die Weiterentwicklung – kurz: über alles. Markus durfte höchstens seine unverbindliche Meinung äußern, die etwa so viel Gewicht hatte wie eine Schneeflocke im Hochofen. "Ich finde, das Kind sollte vielleicht weniger industriell verarbeiteten Zucker konsumieren", wagte er einmal zaghaft zu bemerken. Brunhilde notierte sich das umgehend als "väterliche Übergriffigkeit" und drohte mit sofortiger Entziehung der ohnehin spärlichen Besuchsrechte. Heinrich lachte mit der bitteren Heiterkeit eines Philosophen, der gerade die Sinnlosigkeit des Daseins erkannt hat. Das übertraf ja seine kühnsten literarischen Fantasien! Während Markus sämtliche Rechte an seinem biologischen Meisterwerk eingebüßt hatte, blieben alle Pflichten und Verpflichtungen unverändert bei ihm. Jeden Monat musste er Unterhalt zahlen – eine Art umgekehrte Tantiemen, ein bizarrer Negativ-Kapitalismus. Statt dass ihm sein Werk Gewinn einbrachte, kostete es ihn ein Vermögen!
Brunhilde hingegen hatte den Deal des Jahrhunderts abgeschlossen. Sie besaß nicht nur ein Exemplar der besten Gene, die Markus anzubieten hatte – Intelligenz, Humor, die genetisch verankerte Fähigkeit, perfekte Spiegeleier zu braten –, sondern auch eine lebenslange, rechtlich abgesicherte Einnahmequelle. Ein biologisches Abo-Modell, wenn man so wollte. Monatlich klingelten bei ihr die Kassen wie bei einem gut frequentierten Spielkasino, während Markus sich ernsthaft überlegte, ob er sich diesen Monat den Luxus von Marmelade auf seinem Brot leisten konnte.
Doch das war längst nicht das Ende der Geschichte! Brunhilde hatte zusätzlich den ultimativen Joker für jede Lebenssituation erhalten: "Ich muss an unser Kind denken!" Diese magischen Worte besaßen die Kraft, jede Diskussion zu beenden, jede Tür zu öffnen und jede noch so vernünftige Argumentation zu pulverisieren. Markus musste nicht nur zahlen, sondern auch noch dankbar dafür sein, dass er zahlen durfte – schließlich war es ja "für das Kindeswohl".
Heinrich griff nach seinem Kaffee und stellte mit der Resignation eines gescheiterten Existentialisten fest, dass dieser längst die Temperatur einer Winterlandschaft angenommen hatte. Die Realität war weitaus absurder, weitaus perfider, weitaus brillant-diabolisch als jede Satire, die er sich hätte ausdenken können. Hier existierte ein System, bei dem ein Mann sein wertvollstes biologisches Gut bereitwillig hergab und anschließend behandelt wurde, als hätte er ein Kapitalverbrechen begangen.
Brunhilde konnte übrigens jederzeit die "Produktion einstellen" – sprich: Markus den Kontakt zu seinem eigenen genetischen Erbe vollständig verwehren –, aber die Zahlungsverpflichtung blieb selbstverständlich bestehen. Es war, als müsste man für ein Netflix-Abonnement zahlen, nachdem einem jemand den Fernseher gestohlen, das Haus angezündet und die Kreditkarte missbraucht hatte. Und falls das Kind später einmal zu Höherem bestimmt wäre? Falls es den Nobelpreis gewönne, die Lösung für den Klimawandel fände oder gar den Weltfrieden herbeiführte? Dann würde Brunhilde als die heldenhafte Mutter gefeiert werden, die es "trotz aller Widrigkeiten und ohne Unterstützung" großgezogen hatte. Markus wäre bestenfalls eine belanglose Fußnote in den Geschichtsbüchern: "Der biologische Lieferant leistete einen minimalen genetischen Beitrag."
Heinrich lehnte sich in seinem Stuhl zurück wie ein Philosoph, der soeben die Weltformel entschlüsselt hat, und betrachtete sein unfertiges Manuskript mit neuen Augen. Plötzlich schien sein Roman so bedeutungslos wie ein Sandkorn in der Sahara. Warum sollte er kostbare Zeit mit fiktiven Absurditäten verschwenden, wenn die Realität bereits den größten schwarzhumorigen Thriller aller Zeiten kostenfrei lieferte?
Er dachte an die Millionen von Männern wie Markus, die Tag für Tag in ihre Büros, Fabriken und Werkstätten pilgerten, um für ihre ehemaligen biologischen Investitionen zu schuften wie Galeerensklaven. Sie waren Künstler, deren Meisterwerke gestohlen worden waren, die aber dennoch die Rechnungen für die Ausstellungsräume, die Sicherheitsdienste und die Reinigungskräfte zu begleichen hatten.
Das wahrhaft Geniale an diesem System war seine gesellschaftliche Akzeptanz. Niemand – absolut niemand! – fand auch nur das Geringste daran bemerkenswert. Im Gegenteil! Männer, die es wagten, diese fundamentale Ungerechtigkeit auch nur zu erwähnen, wurden umgehend als unreife Jammerlappen, als Versager, als Drückeberger gebrandmarkt. "Übernimm endlich Verantwortung!", donnerte dann der Chor der Empörten. Verantwortung wofür? Dafür, dass er naiv genug gewesen war zu glauben, er würde ein gemeinsames Projekt eingehen, anstatt in ein biologisches Ponzi-Schema zu investieren?
Heinrich schloss seinen Computer mit der Endgültigkeit eines Richters, der ein Todesurteil verkündet. Sein Roman würde warten müssen – möglicherweise für immer. Er hatte eine weitaus wichtigere Mission entdeckt: Er würde Markus heute Abend in der Kneipe aufsuchen und ihm vorschlagen, gemeinsam eine Selbsthilfegruppe zu gründen. "Enteignete Samenspender e.V." – das hatte einen wunderbar offiziellen Klang.
Vielleicht könnten sie eine Petition initiieren: "Gerechte Tantiemen für biologische Urheberschaft!" oder "Gleichberechtigung für genetische Investoren!". Heinrich malte sich bereits aus, wie er vor dem Bundestag stehen und eine flammende Rede über die Ungerechtigkeit des biologischen Marktes halten würde, während die Abgeordneten betreten auf ihre Schuhe starrten.
Doch dann dämmerte ihm mit der Klarheit einer Offenbarung, dass die meisten Politiker selbst Männer waren, die höchstwahrscheinlich in derselben biologischen Falle gefangen saßen. Die würden seine Petition mit der Begeisterung von Zahnschmerz-Patienten entgegennehmen, die zur Wurzelbehandlung verdonnert wurden.
Heinrich seufzte mit der Schwermut eines tragischen Helden und schlurfte zur Kaffeemaschine. Während er wartete, bis der neue Kaffee seine erlösende Arbeit verrichtet hatte, sinnierte er über die perfide Schönheit dieses Systems. Es war ein wahres Meisterwerk der Evolution – nicht biologisch, versteht sich, sondern gesellschaftlich. Ein System von solcher Raffinesse, dass es Männer dazu brachte, freiwillig ihre wertvollsten Ressourcen abzugeben und anschließend noch dafür zu bezahlen, als hätten sie sich für ein Folterabonnement angemeldet.
Brunhilde und ihre zahlreichen Artgenossinnen hatten das ultimative Geschäftsmodell der Menschheitsgeschichte entdeckt: Sie verkauften Hoffnung und kassierten lebenslang dafür ab wie Zuhälter mit Doktortitel. Kein Wunder, dass Frauen stets ein wissender Schimmer in den Augen lag, wenn Männer großspurig von "Investitionen in die Zukunft" sprachen.
Der Kaffee war endlich fertig. Heinrich goss sich eine dampfende Tasse ein und erhob vor seinem Spiegelbild: "Auf die einzige Branche der Welt, in der der Produzent für sein größtes Werk bestraft wird, anstatt dafür gefeiert zu werden. Möge sie noch lange blühen und gedeihen – nur bitte, bitte nicht in meinem Garten. Manche Samen sind zu teuer für die Ernte, die sie versprechen."
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