Eine Reise auf die andere Seite
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Gastautor: Dinosaurier
Euer Dinosaurier ist ja in der Anstalt der Bekloppten und Bescheuerten – aka Dinosauriers Firma – der Saurier für die schwierigen Fälle. Da die Anstalt der Bekloppten und Bescheuerten vor einiger Zeit einen neuen Eigentümer bekommen hat, trug es sich zu, dass dieser in Russland, genauer in Wolgograd, Messeaussteller ist. Da man aus dem Konzern aus jeder Tochter dort jemanden vor Ort haben wollte, war es keine Frage der Zeit, sondern schon gesetzt, wer das sein würde.
Die anderen Kollegen sowie die Kollegin aus dem Außendienst waren allesamt froh, dass der Kelch an ihnen vorübergegangen ist.
Nun war der Dinosaurier schon oft geschäftlich in Russland und der Ukraine, es wäre unter früheren Umständen also nichts Außergewöhnliches gewesen. In Anbetracht der aktuellen Weltlage und der Tatsache, dass die Medien sehr tendenziös berichten, bot sich hiermit die Gelegenheit, auch einmal die andere Seite anzuschauen und anzuhören. Sollte bei einer Situationsanalyse zwar eigentlich Standard sein, aber was sind schon Standards in der neuen bunten Republik Deutschland?
Nun denn, so sollte es sein. Trotz einiger Bedenken seitens der Amiga begab ich mich also gemeinsam mit einem Kollegen eines anderen deutschen Werks (junger Bursche, 27, Russlanddeutscher) auf den Weg. Das Visum im Vorfeld war reine Formsache, absolut unproblematisch. Daran einen nicht unwesentlichen Anteil mag die Eigentümerstruktur des Konzerns haben, Gazprom hält dort 25,1% der Aktien.
Die Anreise wiederum gestaltet sich deutlich aufwändiger. Direktflüge nach Russland gibt es aus der EU nicht mehr. Früher gab es noch Verbindungen über Belgrad, da aber Russland den Luftraum über den Regionen Belgorod, Kursk und Rostow am Don gesperrt hat, ist auch dies nicht mehr möglich. Aufgrund der sich stetig verändernden Sicherheitslage in Russland, respektive in Teilen des Luftraums dort, mussten sowohl die Flugroute als auch das Hotel umgebucht werden.
Los ging es mit meinem Passat des Todes aus dem ostwestfälischen Barbarien in Richtung Kaliningrad. Die Reise bis zum polnisch / russischen Grenzübergang Bezledy / Bagrationowsk verlief reibungslos und sogar annähernd staufrei. An der Grenze selbst war nichts los, kein einziges anderes Fahrzeug in beide Richtungen. Das gab den Grenzern auf beiden Seiten die Gelegenheit, ausgiebig alle Dokumente zu prüfen und ein paar Rückfragen zu stellen. Das verlief aber alles in angemessenem Ton und da wir uns keine Schwächen geleistet haben, ging es dann auch problemlos weiter. Mit einigem zeitlichen Puffer trafen wir am Flughafen ein. Es war schon dunkel, also gab es erstmal was zu Essen und dann kam der Check-in. Der erste Flug mit Ural Airlines von Kaliningrad nach St. Petersburg. Unser Pöbel-Lerby machte sich aufgrund des miesen Sicherheitsratings im Vorfeld schon Sorgen, aber so schlimme sollte es schon nicht werden … dachten wir. Wer jetzt noch über Ryanair und Wizzair oder sogar Lufthansa meckert, dem sei ein Flug mit Ural Airlines empfohlen, um ihn dankbar für den Luxus zu machen, der zuvor genannten Airlines bieten.
Innerrussische Flüge sind weniger Flüge als bei uns, sondern eher mit Busfahren zu vergleichen. Das Gepäck wird nicht aufgegeben, sondern mit in den Passagierraum genommen. Es gibt auch keinen Bustransfer zum Flugzeug, sondern man darf ungefähr 2 km über das Flugfeld zum Flieger marschieren. Der Flieger selbst war älter als ich und wahrscheinlich zuletzt zu Sowjetzeiten mal gewaschen worden. Es gibt praktischerweise auch keine reservierten Sitzplätze. Beim Betreten des Fliegers drängen und streiten sich zahllose Menschen um die besten Plätze. Auf klassische Flugbegleiter verzichtet die Airline, stattdessen gibt es 4 Sky Marshal (nichts anderes als gewöhnliche Milizionäre in ihren schwarzen Uniformen), die auch gar nicht erst zu diskutieren anfangen, sondern Passagiere, die zu lange brauchen, mit Schlagstock auf ihren Platz prügeln. Funktionierende Toiletten sind Luxus, dafür stinken sie umso mehr. Annähernd jeder Sitz ist kaputt, die Polsterung aufgerissen oder Spiralen piksen in den Allerwertesten. Von den ausklappbaren Tischen am jeweiligen Vordersitz wollen wir gar nicht erst sprechen. Deckenverkleidung ist im Großteil des Flugzeugs wartungsfreundlich gar nicht montiert, Kabel sind sichtbar und frei zugänglich. Gut, dass wir nur nach St. Petersburg und nicht nach Wladiwostok müssen.
@Pöbel-Lerby: 0/7 Sternen bei der Sicherheit ist schon ein Kompliment!
Angekommen in St. Petersburg und froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, geht es – ebenfalls nach langem Fußmarsch mit Gepäck vom Rollfeld zum Flughafengebäude – zum Check-in für den Weiterflug nach Wolgograd. Diesmal allerdings mit Gazpromavia, der hauseigenen Fluggesellschaft eines bekannten und beliebten Erdgasunternehmens. Der Unterschied könnte nicht krasser sein. Ein Erste-Klasse-Flug vom Feinsten mit sehr netten und optisch ansehnlichen Flugbegleiterinnen.
Angekommen in Wolgograd, folgt erstmal ein Taxitransfer zum Hotel. Untergekommen sind wir im Hotel Wolgograd, so ziemlich der besten Adresse der Stadt. Das erfolgte wohl aber nicht ganz freiwillig. Das zuvor gebuchte Hotel musste man aus Sicherheitsgründen umbuchen, da die Amis ATACMS-Raketen an die Ukraine geliefert hatten und die Unterkunft im 327 km westlich gelegenen Wolgodonsk (welcher Idiot bucht Hotels so weit weg vom Messegelände???) befand sich wohl schon gefährlich nah am Operationsradius der Raketen.
Egal, erstmal etwas gepennt, die Anreise war lang und anstrengend. Nach einigen Stunden sind wir aufgewacht, erstmal vernünftig gegessen und dann ging’s auf zum Messegelände, erst einmal mit dem Taxi. Der erste Eindruck der Stadt bei Tag: Die Luftverschmutzung ist atemberaubend, stellt China beileibe in den Schatten. Russische Städte sind ja nun nicht gerade für ihre Luftqualität bekannt, aber das war schon übel. Sichtweite bei gutem Wetter < 500 Meter. Der Grund hierfür: In Wolgograd ist der Großteil der russischen Stahlindustrie ansässig, und die läuft offenbar unter Vollast, allen voran die Metallfabrik Roter Oktober. Ich habe keinen einzigen Schlot gesehen, der nicht geraucht hat. Abgasentschwefelung ist auch nur was für langhaarige und Weicheier. Später erzählte man mir auf der Messe, dass es seit 1990 nicht mehr so schlimm gewesen ist.
Ich war zuvor noch nie in Wolgograd, mein Kollege auch nicht. Am Messestand trafen wir zwei andere Kollegen aus den US-Werken des Konzerns, beide aus Texas. Beide hatten den Tag schon die Stellung gehalten und freuten sich über die Verstärkung. Überhaupt musste ich feststellen: In Wolgograd und Umgebung wohnen offenbar die Italiener unter den Russen. Generell offener und herzlicher als in Deutschland oder Skandinavien sind sie ja alle, aber dass man – sobald man als Ausländer identifiziert wurde, also nach dem ersten Wort – häufig sofort umarmt wird, war mir neu. Die Amis kamen damit überhaupt nicht klar. Einer der beiden wurde von einer gutaussehenden, vielleicht 25-jährigen Russin umarmt. Man konnte an seinen Gesichtszügen ablesen:
– Scheiße, was passiert hier gerade?
– Oh Gott, auch noch vor so vielen Zeugen!!!
– Oh nein, russischer Knast incoming …
Genau in dieser Reihenfolge und innerhalb von zwei Sekunden. Ich kringele mich gerade noch vor Lachen, während ich diese Zeilen schreibe.
Bis zum späteren Nachmittag hatte man dann so leicht einen im Kahn, was die Kontaktaufnahme deutlich vereinfacht. Ich fühlte mich jedenfalls in einer Sache schwer an Zuhause erinnert: Die Propagandamaschinerie der Russen läuft mindestens genauso gut wie hier, halt nur mit umgekehrten Vorzeichen. Wir wurden z. B. in einem Gespräch darauf angesprochen, ob wir warme Zimmer hier genießen würden. Oder noch krasser: Die Amis hat man gefragt, ob sie sich endlich mal wieder satt essen konnten?! Als, wenn wir frieren oder die Amis hungern würden …
Nach Messeende ging es ins Restaurant, mein Gott, was haben wir gefressen (nicht gegessen!). Der Wodkakonsum kam auch nicht zu kurz. Im Zimmer musste ich erstmal eine Stunde ruhig auf dem Bett liegen, hatte Angst, bei der nächsten Bewegung zu platzen.
Zweiter Messetag: Gut besucht, viele interessante Kontakte, am Abend dann Treffen mit drei Kunden in einem Restaurant. Diesmal gingen wir zu Fuß durchs Stadtzentrum. Es hatte zuvor geregnet, endlich war die Luft klarer und man konnte auch ans andere Wolgaufer hinüberschauen. Der Fluss ist dort etwa 2 km breit. Auffällig war: Es liefen enorm viele Kriegsversehrte herum. Junge Burschen, denen ein oder mehrere Gliedmaßen fehlten, oder die im Gesicht schwere Brandverletzungen hatten. Und es waren viele Feldjäger unterwegs, die peinlichst darauf achteten, dass keiner durchdrehte. Einer der Verletzten ist wohl doch – ich konnte keinen Auslöser erkennen – durchgedreht. Er hatte einen Arm verloren, was die Feldjäger aber nicht davon abhielt, ihn mit drei Mann und Schlagstöcken übelst zu verprügeln und ihm dann einen Freiflug aus 2m Entfernung auf eine LKW-Ladefläche zu verpassen.
Wir standen nur mit offenem Mund da. Unfassbar und verstörend, wie die mit ihren Leuten bei der Armee umgehen.
Sichtlich beeindruckt gingen wir mit den Kunden ins Restaurant. Auch hier wieder: Nicht gegessen, sondern gefressen und gesoffen! Nach den Erzählungen des Kunden ist die Auftragslage gut, man kämpft mit Arbeiter- und Fachkräftemangel. Die Kapazitätsauslastung der Stahlindustrie in Wolgograd sowie der Chemieindustrie weiter oberhalb an der Wolga in Togliatti und Samara ist riesig. Sind halt im weitesten Sinne Militärausrüster, wie lange das noch dauert, wagte niemand zu prognostizieren.
Am nächsten Tag wieder zur Messe, alle waren sichtlich in Mitleidenschaft gezogen und freuten sich bereits auf die anstehende Heimreise. Einzig auf den anstehenden Ural Airlines Flug freute sich völlig überraschenderweise niemand. Am Flughafen in Kaliningrad angekommen konnten wir nur hoffen, bereits den Restalkohol abgebaut zu haben. Die Polen verstehen bei Alkohol am Steuer überhaupt keinen Spaß.
Nach weiteren rund 12 Stunden Autofahrt hatte uns die Heimat wieder.
Dies war mein kleiner, völlig subjektiver Einblick in den Alltag auf der anderen Seite. Schade, dass man für ungefilterte Einblicke mittlerweile selbst hinfliegen muss.
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