Der Sündenbock
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Gastautor: Drahtesel
In biblischen Zeiten hat das Volk einmal im Jahr einen Ziegenbock ausgesucht. Dem wurden symbolisch alle Sünden des Volkes aufgeladen und dann wurde er geopfert. Die Gemeinschaft konnte so besser zusammenhalten. Denn man hatte ja alles Böse ausgemerzt, musste sich also nicht mehr mit den eigenen Schattenseiten auseinandersetzen. Alles war gut. Man war das auserwählte Volk.
In Familien, Firmen, Völkern und Gruppen aller Art hat der menschliche Sündenbock genau diese Funktion: "Wir, die Gruppe, sind nur gut. Das Böse ist nur in dieser einen Person." Die Gruppe grenzt den Sündenbock aus und schubst ihn von der Klippe. Und hält zusammen. - Wir erinnern uns. Eine alte Geschichte, eine junge Geschichte...
Kommen wir von der Gruppe zum Einzelnen. Manche Menschen sind bereit, sich selber kennenzulernen. Schon auf den ersten Metern ahnen sie: Hoppla, ich bin ja nicht so, wie ich mich gerne präsentiere. Ich habe eine dunkle Seite, Schatten, Schwächen, Hilflosigkeit, Lieblosigkeit, Neid, Gier, Rachsucht und andere Abhängigkeiten, was auch immer. Alles, was ich vor mir und anderen verberge. Die dunkle Seite der Macht ist auch in mir, sozusagen. Autsch - das tut so weh!
Jetzt kann der Mensch den Weg der Selbsterkenntnis durchaus vermeiden. Das ist wirklich einfach: Werde Teil einer Gruppe! Im Internetzeitalter tut es auch eine Meinungsblase. Als Teil der Gruppe, die das Böse vollkommen auf einen Sündenbock verschiebt, muss der Einzelne sich nicht mehr mit seinen eigenen Schatten auseinandersetzen. Ach - das tut so gut!
Und jetzt kommen wir zur Gesellschaft, in der wir leben. Die liberale westliche Demokratie. Diese Gesellschaft hat die moralische Überlegenheit gepachtet. Political Correctness. Gleichheit. Der Fetisch Frau. Wir kennen das. Das leitet jeden Lebensbereich. Dass aber jeder Mensch eine Kreatur der Natur ist, mit Schatten, Aggressionen, Ambivalenzen und Egoismen, das wird versteckt, ignoriert oder heruntergespielt. So eine Gesellschaft ist natürlich erst mal eine perfekte Wohlfühlgesellschaft. Hilft sie doch jedem einzelnen ihrer Mitglieder dabei, seine eigenen Schatten nicht sehen zu müssen. Wirklich jeder Malte-Torben und jede Anna-Lena kann einfach "woke" sein und sich dann sonnen im Gefühl moralischer Überlegenheit. Das kostet kaum Anstrengung und, ach - das tut so gut!
Wie eine dysfunktionale Familie, so schreit auch diese Gesellschaft nach einem Sündenbock und Prügelknaben. Ein Sündenbock muss her, der daran schuld ist, dass eben doch nicht alles so prima funktioniert, obwohl "wir" und die Gesellschaft ja so gut und überlegen sind. Ein Sündenbock, in dem man all das Schlechte sieht, das man in sich selber nicht sehen möchte.
Der freie Mann ist für diese Gesellschaft der ideale Sündenbock. Aber was ist denn nun ein freier Mann? Der freie Mann, das ist der Mann, der nicht mehr von Frauen abhängt. Der Mann, der Frauen nicht auf ein Podest hebt. Der Mann, der nicht mehr nach Bestätigung jagt und nicht mehr blind um Status kämpft. Der freie Mann, das ist der Mann, der die Kreatürlichkeit des Menschen erkennt und was es mit der Geschlechterdynamik auf sich hat. Der freie Mann verschliesst nicht seine Augen vor der Tatsache, dass Ungleichheit und nicht Gleichheit in den Kräften der Natur waltet. Der freie Mann emanzipiert sich vom Denken der Gruppe. Der freie Mann nährt in sich selbst Vernunft und Rationalität. Der freie Mann entscheidet, wann er seiner Natur folgen mag und wann er mit seinem Geist gegensteuern will. Der freie Mann macht sein eigenes Ding. Das kann der Weg der Spiritualität sein. Ein Buch schreiben. Der Weg des Minimalismus. Videospiele. Hedonismus. Der Fussballverein. Waldspaziergänge. Eine Briefmarkensammlung. Motorrad reparieren. Oder den Mond betrachten. Was immer er für sich entscheidet. Jedenfalls geht der freie Mann seinen eigenen Weg und stellt sich selbst in den Mittelpunkt seines Lebens. Damit ist er ein Aussenseiter. Eine Unverschämtheit! Stellt doch schon allein seine fröhliche Existenz Illusionen infrage, die die liberale westliche Gesellschaft zusammenhalten. Auf diesen freien Mann kann die liberale westliche Gesellschaft und alle ihre Mitglieder nun alles Giftige projizieren, alle dunklen Seiten, die der Einzelne und die Gesellschaft an sich selber nicht sehen wollen. Für diese Gesellschaft ist der freie Mann ein toxischer Mann.
Der freie Mann ist wie der Sündenbock, wie das schwarze Schaf in einer Familie: Er kann in dieser Gesellschaft nicht gewinnen. Was immer er tut, es wird ihm negativ ausgelegt. Wie eine dysfunktionale Familie, wird diese Gesellschaft lieber auf die guten Taten des freien Mannes verzichten und ihn weiter zum Sündenbock stempeln, statt ihn und seine guten Taten anzunehmen. Alles, was er tut, wird schlecht gemacht werden. Seine ausgewogenen Aussagen werden übertrieben verfälscht wiedergegeben werden. Denn seine Rolle als Sündenbock ist wichtiger als alle Wohltaten, die der freie Mann zur Gesellschaft beitragen könnte. Wohltaten als liebevoller Vater, Freund, Lehrer, Arzt oder Mentor. Wohltaten als Bewahrer und Vermittler gesellschaftlicher Regeln und Institutionen. Wohltaten als Vordenker und als Anwender von Rationalität, Aufklärung und praktischer Vernunft. Wohltaten als Erfinder, Hersteller und Instandhalter der technologischen Welt. Das kann nicht gesehen werden, denn es ist wichtiger, den freien Mann als Sündenbock zu sehen. Er ist der toxische Mann. Seine Errungenschaften werden anderen oder dem Zufall zugesprochen werden. Oder die Errungenschaften werden als Ergebnis von niederen Beweggründen des Mannes umgedeutet. Keinesfalls, so wird es heissen, kann es sich um ein Ergebnis ehrlicher Anstrengung und guten Willens handeln! Der Sündenbock Status des freien Mannes stabilisiert die Gesellschaft. Und bekannterweise ist das erste Ziel jeder Gruppe und Organisation, sich selbst zu erhalten. Dafür kippt der Sündenbock über die Klippe.
Der freie Mann, der weit auf seinem Weg vorangeschritten ist, er hasst die Frauen nicht. Er hält einen gesunden Abstand. Er hat, nachdem ihm ein Licht über die wahre Geschlechterdynamik aufgegangen ist, seine Phase der Wut überwunden. Egal. Die Gesellschaft wird in ihm immer nur den Frauenhasser sehen. Der freie Mann, der sich von politischen Gruppierungen, Meinungsblasen, Ideologien und Verschrobenheit emanzipiert hat und ausgewogen auf Missstände hinweisen könnte: Er wird dafür geschlachtet werden. Man wird nicht hören wollen, was er zu sagen hat. Seine guten Dienste werden ignoriert werden oder schlecht gemacht werden. Seine Errungenschaften werden anderen zugeschrieben werden. Sie werden ihn mit Dreck bewerfen. Selbst wenn er sich entfernt und seinen eigenen Weg geht, wird ihn das nicht vor dem Hass dieser Gemeinschaft schützen. Seine Distanzierung wir ihm als Akt der Feindseligkeit ausgelegt werden.
Was folgt aus alldem für den freien Mann? Er kann das Spiel in dieser Gemeinschaft jedenfalls nicht gewinnen. Er kann nur nicht mehr mitspielen. Nichts erwarten. Wie für den Sündenbock, das schwarze Schaf, den Prügelknaben in einer Familie, so gibt es für den freien Mann keinen gesunden Platz in dieser Gemeinschaft. Sondern für den freien Mann bleibt nur, sich zu distanzieren, innerlich und äusserlich. Seinen eigenen Weg zu gehen. Ihm bleibt nur, sich die letzten Reste des Anspruchs, dass die Welt gefälligst ein gerechter Ort zu sein hat, aus den eigenen Hirnwindungen zu bürsten. Wahrscheinlich ist der freie Mann darin stärker, als er denkt. Der Sündenbock, das schwarze Schaf einer Familie, das ist oft das Kind, das eine besondere Begabung hat. Das Kind, das klarsehen kann. Mutig ist. Oft auch das Kind, das empathisch ist. Es ist ja genau deswegen das Kind, das den banalen Anspruch aufdecken könnte, der hinter jeder Illusion steht. Hinter jeder Illusion, die die narzisstischen Strippenzieher von sich selber haben. Hinter jeder Illusion, die eine toxische Gemeinschaft verbindet.
Was ist aber mit dem Mann, der sich schon auf den Weg gemacht hat, aber seine Heimat noch nicht in sich selbst gefunden hat? Der also noch nicht ganz ein freier Mann ist? Bereits als Sündenbock abgestempelt, aber noch nicht fähig allein für sich zu stehen, treibt ihn die liberale westliche Gesellschaft in die Arme seltsamer Gruppierungen. Alu-Hut Träger, Autokraten-Anbeter, Gurus, schwurbelige Rebellen und extreme Meinungsgruppen warten nur auf neue Mitläufer. Dort findet der Mann, der noch nicht für sich selber stehen kann, wenigstens Akzeptanz. Er sieht aber nicht das Preisschild, das daran hängt. Aber das ist eine andere Geschichte.
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