Alle Jahre wieder (2)
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Gastautor: Santerra
Alle Jahre wieder kommt die Zeit, in der die liebe Familie aus allen Himmelsrichtungen zusammenkommt, um gemeinsam das Fest der Liebe zu begehen. Viele nennen es Weihnachten, auch wenn das aus Gründen der Rücksichtnahme auf viele unserer neuen Mitbürger ein für manchen in meiner Familie vielleicht etwas überholter Begriff sein mag. Begangen wird dieses im Neusprech genannte Lichterfest meist im städtischen, ca. 300qm großen Einfamilienhaus von Familie Links.
Familie Grün und der Antikapitalismus
So begab es sich, dass man sich zu Weihnachten wieder traf, so wie jedes Jahr. Nach den üblichen, geheuchelten Freudenbekundungen und einem reichhaltigen Mahl ergab sich eine zwanglose Unterhaltung. Es gibt tolle Neuigkeiten! Familie Grün ist wieder schwanger! Endlich! Lange hat man überlegt, ob es vertretbar ist, nochmals ein Kind in die Welt zu setzen und, ob das zur momentanen Lebenssituation passt, aber letztendlich hat die Liebe zur Familie überwogen. Wie oben erwähnt hat man ja jetzt auch den Platz, da man mithilfe der Familienerbschaft ein tolles Haus kaufen konnte, das jetzt liebevoll durch den stolzen Papa der Familie renoviert wird. Die Mieter, die beim Kauf des Hauses darin lebten, konnte man zum Glück ohne Gerichtsprozess aufgrund von Eigenbedarf schnell und unkompliziert loswerden. Schließlich braucht man den Platz jetzt umso mehr. In einer der so freigewordenen Wohnungen konnte man dadurch sogar Menschen aus einem Kriegsgebiet aufnehmen, die wirklich dringend Hilfe brauchen. So hat man ihnen das auf dem Amt erzählt: Die seien ganz, ganz arm und wüssten nicht, wohin und hätten sonst ja keine andere Möglichkeit. Es gab zwar doch etwas verwunderte Blicke, als die arme und bedürftige Familie mit einem nagelneuen Oberklasse-SUV einer deutschen Premiummarke vorgefahren kam, aber wie immer hat nichts mit nichts zu tun, und in ihrem Heimatland ist schließlich Krieg. Auch komisch ist, dass der Papa der Familie zwar keiner geregelten Arbeit nachgeht, aber immer wieder mal sporadisch zurück in das Kriegsgebiet muss. Eigentlich hätte der strenggenommen gar nicht erst ausreisen dürfen, aber das wird so schon seine Richtigkeit haben. Schließlich haben die auf dem Amt versichert, dass alles in bester Ordnung sei. Und wenn der Staat das sagt, dann stimmt das auch.
Die Hoffnung des Familienvaters Grün auf eine tatkräftige Unterstützung bei der Hausrenovierung wurde leider nicht erfüllt, da der Papa der Gäste ja so gut wie nie da ist. Laut seiner ihn liebenden Ehefrau ist das aber auch gar kein Problem. Er macht das doch sehr gerne, er ist handwerklich begabt, und schließlich weiß er ja, wofür er die ganze Arbeit auf sich nimmt. Nicht für sie oder für ihn, nein, er tut es für die Familie. Sie ist auch sehr großzügig, was den zeitlichen Rahmen angeht. Er hat jetzt sieben Monate Zeit, um alles fertig zu bekommen.
Mama Grün kann ihm ungünstigerweise bei der Arbeit nicht helfen, sie ist schließlich schwanger und darf sich körperlich oder psychisch auf keinen Fall anstrengen. Wie beim letzten Mal schon hat sie ihren Arzt auch dieses Mal davon überzeugen können, dass ihr Job im Marketing eines großen Konzerns die Stresshölle pur ist. Somit ist es auch unvertretbar, dass sie weiter regulär arbeiten geht. Auch so ein Haushalt ist sehr anstrengend und so muss sie ihr Mann neben der Renovierung ein bisschen mehr unterstützen als sonst. Das tut er auch selbstverständlich nicht für sie, nein, er tut es für die Familie. Bei ihm scheinen sich derweil leichte Anzeichen von Stress einzustellen. Das ist grundsätzlich nicht gut, er leidet unter einer Stoffwechselerkrankung, und Stress ist für ihn eigentlich so ziemlich das Ungesündeste, was er bekommen kann. Laut seiner ihn liebenden Ehefrau ist aber alles in Ordnung. Allerdings findet sie schon, dass er sich ein wenig mehr anstrengen könnte.
Der Fortschritt beim Umbau lässt laut ihr noch zu wünschen übrig, aber da Mama sich jetzt wieder mal in Elternzeit verabschieden wird, machen ihnen doch die Zahlen etwas Sorgen. Grundsätzlich ist es zwar so, dass man in der Familie allgemein in einer Notsituation durch das oben erwähnte, großzügige Erbe gut abgesichert wäre, falls etwas Unvorhergesehenes passieren sollte, aber die Aussicht, durch Hauskauf, Renovierung und durch Mutterzeit geringeres Einkommen den Lebensstandard absenken zu müssen, ist nicht ganz das, was sich die Frau des Hauses so vorstellt. Also kommt man gerade auf die Idee, sich vielleicht doch wieder einen Mieter in die noch verbleibende und durch Papa bestimmt bald fertig renovierte Wohnung zu holen. Bei dem, was man in dieser Gegend als Miete verlangen kann, könnte damit die Tilgung bezahlt werden. Dies wurde natürlich so formuliert, dass man etwas gegen die Wohnraumnot unternehmen möchte, nicht, dass noch jemand denkt, man hege kapitalistisches Gedankengut. So würden laut ihrer Aussage ja alle gewinnen und somit wäre es für alle fair.
Fortsetzung folgt …
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