Reif für die Insel (Teil 3)

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Gastautor: eisfreak
Reif für die Insel Teil 3
Am nächsten Tag scheint die Sonne wie im Tourismusprospekt, ich hänge erstmal in der Lounge herum und recherchiere alle Hütten am Wanderweg, füge die POI mitsamt Link zur Homepage in mein GPS-Programm ein, informiere mich über die Konditionen zum Übernachten und plane schon mal die Tour wegfein vor, um ein Gefühl für die Entfernungen zu bekommen. Dann schlendere ich durch die Gassen, lande eigentlich direkt im nächsten Café mit liebevoll belegten Panini (oder wie das heißt, bei mir kommt da immer das Italienische durch).
Es gibt im Zentrum auch eine der vier Decathlon-Filialen in Palma, wo ich pullovermäßig noch ein Upgrade erstehe. Die dünne Daunenjacke ist zwar abends und nachts im Biwak nützlich, aber wandern kann man damit nicht. Jeder Schweißeintrag würde die Isolationswirkung zunichtemachen.
Die Burg wird besucht, der Hafen wird bestaunt; ich lese eine Orange auf, die da wie bei uns Äpfel als Fallobst unter dem Orangenbaum liegt. Uralte Windradtürme stehen da noch, mit Resten der Windräder. Nachdem ich mich noch gestärkt habe, geht es ins Hostel zurück, mit einer Männerhandtasche eines lokalen, ungefilterten Bieres im Gepäck. Ein junger Bursche setzt sich in meine Nähe, hat sich Nudeln gekocht und eine Soße improvisiert. Wir kommen ins Gespräch.
Schon bald fängt die Politisiererei wieder an. Nicht schon wieder, denke ich, packe aber meine Geheimwaffe aus: Ich argumentiere emotional. Aus Prinzip halte ich mit meiner Meinung nicht hinterm Berg, das habe ich auch in tiefsten Ostzeiten nicht gemacht. Aber man kann es ja auf unterschiedliche Weise tun, und ich erkläre dem jungen Burschen, dass ich angesichts der „Moderation“ der Inhalte in den sozialen Medien als DDR-Veteran so ein dummes Gefühl habe. Gefühl, haha, da kann man ja schlecht argumentieren. Das ist ja für die Wokisten DAS Jokerargument aller Argumente, eigentlich ja gerade ein Nicht-Argument. Jetzt ich fühle jetzt eben auch etwas – und Gefühle sind nun mal nicht verhandelbar.
Tatsächlich schaffe ich es dann, auf andere Themen überzuleiten, und der junge Bursche überrascht, in Bezug auf den allgemeinen historischen Hintergrund der Besiedlung Mallorcas, mit einem soliden geschichtlichen Hintergrund, angefangen vom Römischen Reich, über den Einfluss der Araber, bis zur heute vorliegenden Struktur der Stadtkerne.
Es wird spät, die restlichen Biere und etwas Frühstücksproviant landen in einer Tüte im Gemeinschaftskühlschrank, akkurat mit Zimmernummer, Name und Datum beschriftet. Mal sehen, ob ich von dem Bier noch was sehe, denke ich mir. Die Orange war übrigens quietschsauer mit Unmengen an Kernen – das Pendant zum sauren deutschen Straßenapfel, LOL.
Jetzt muss ich aber in die Koje, morgen geht es sehr zeitig los. Diesmal bin ich in einem 4-Bett-Zimmer, aber das war eine dumme Idee. Es ist recht eng und vor dem Fenster steht irgendein Aggregat auf dem Dach. Ich schlafe ein und träume, dass ich mit dem Jimny auf der Autobahn fahre. Plötzlich dröhnen laute Motoren, drei Motorräder kommen immer näher. Sie nehmen mich in die Zange, einer ist dicht hinter mir, es wird immer enger, ich habe keinen Plan, wie ich der Situation entkommen kann. Plötzlich sind die Motorradfahrer weg, ich wache auf und stelle fest, dass die ganze Zeit dieses Wärmetauscher-Aggregat gerattert und gedröhnt hat. Na toll.
Halb sechs vibriert das Handy, ich schnappe mein Zeug und schleiche mich aus dem Zimmer. Durch leere Gassen eile ich zum zentralen Umsteigebahnhof, halte die Kreditkarte an den Leser an der Schranke und kann zum Bahnsteig hinunterfahren. Man kommt ohne Fahrkarte oder Bezahlen gar nicht auf den Bahnsteig. Zusammen mit müden Berufspendlern fahre ich in einen größeren Ort, wo ich dann in den Bus steige, der in die Berge fährt. Schon in den Ortschaften ist es eng, man staunt, wo der Bus überall durchpasst. Aber dann fahren wir eine sehr schmale Straße mit unzähligen Spitzkehren an schroffen Felswänden und tiefen Schluchten entlang, da wird einem angst und bange. In den Kurven geht es wieder um Zentimeter, Leitplanken existieren nicht und der Tiefblick in die Schluchten lässt den Atem stocken.
Lluc, ein kleiner, verschlafener Ort, wird erreicht. Hier treffe ich direkt auf den Wanderweg und bin nach ein paar Minuten in einer völlig anderen Welt. Diese Welt besteht aus Trockensteinmauern, mit den typischen runden Steinen an der Außenseite. Aus dem gleichen Material ist auch der Weg hergestellt. Quasi eine liegende Mauer. Der Weg wird steiler, windet sich in scharfen Kurven den Berg hoch, die Anmutung wird alpiner. Schon ist man über der Baumgrenze, bewundert die spektakulärste Szenerie und kann sich gar nicht sattsehen an den Aussichten.
Oben angelangt, hört man erstmal Kuhglocken. Aber das sind Schafe. Weiter geht es, größtenteils mutterhundalleine, an Bergflanken entlang über einen kleinen Pass in eine Art Hochtal. Der höchste Berg des Tramuntana-Gebirges, mitsamt seinem markanten Observatorium, zeigt sich immer wieder als Dominate, aber mich zieht es konsequent in eine der gerühmten Hütten.
In dem Hochtal ist definitiv T-Shirt-Wetter. Geschützt durch die Bergflanken, wachsen hier stattliche Bäume und es ist warm und windstill. Mir kommen zähe Trailrunner entgegengelaufen, die schon weit jenseits der 60 sein mögen. Rufen mir ein strammes ¡Hola! entgegen, als hätten die ein unendliches Lungenvolumen. Oha, denke ich, das entspricht jetzt nicht ganz dem Bild des geruhsamen Südländers, der stundenlang nur im Straßencafé sitzt und jeden Stress vermeidet.
An einem größeren Pass zweigt ein Weg zur Hütte ab, der mich zu einer Herde wilder Ziegen führt. Deren Fluchtdistanz ist erstaunlich gering, aber alle sind friedlich. Weidegatter unterbrechen den äußerst steinigen Wanderweg, jeder Fußtritt muss konzentriert gesetzt werden, damit man nicht stolpert oder umknickt. Angesichts der wilden Felspanoramen, der Blicke teils weit ins Land, will man da gar nicht loshetzen. Die Stundenangaben auf den Wegweisern muss man auf jeden Fall ernst nehmen, das haben sicherlich die zähen Bergläufer ermittelt. Das ist eher die Mindestzeit für den jeweiligen Abschnitt. Man darf sich von der absoluten Berghöhe nicht täuschen lassen, es handelt sich in Abschnitten um eine Tour, die vom Anspruch an die Trittsicherheit durchaus mit alpinen Steigen vergleichbar ist.
Endlich erreiche ich, schon etwas tiefer gelegen, die Hütte „Els Tossals Verds“. Es ist zeitiger Nachmittag, die Hütte ist kaum belegt, und schon sitze ich im Freien mit einem Kaffee und einem kleinen Blechbrötchen im schönsten Sonnenschein. Ich schnappe mir ein paar touristische Bücher und stöbere in den Informationen und Beschreibungen der Insel, während ich an meinen Getränken nippe.
Es gibt kein perfektes Leben, das ist eine glatte Lüge und wäre ja auch das Ende jeder persönlichen Weiterentwicklung. Aber es gibt den perfekten MOMENT. Genau dieser jetzt ist so einer, den ich auskoste, bis mich die sinkende Sonne und beginnenden Kühle in die Hütte treibt, wo ich mich am schon lange angeheizten Kamin weiter durch meine vorbezahlten Gerstenkaltschalen trinke.
Nach und nach trudeln weitere Wanderer, vor allem Wanderinnen, in der Hütte ein und gesellen sich an den großen Tisch. Da nur wenig los ist, bekommt heuer jeder sein Zimmer, wo sonst bis zu 6 Personen in Doppelstockbetten lagern. Welch Luxus, in der kargen Berglandschaft. Überhaupt ist das Hüttensystem straff durchorganisiert: Die Übernachtungskosten und das Menü der Speisen sind überall nach einer einheitlichen Preisstruktur gestaltet (ein kleines Bier kostet exakt 2,81 €), man muss sich in der Saison einige Tage vorher anmelden, da die Hütten sehr beliebt sind. Man kann Bettwäsche ausleihen oder den eigenen Schlafsack nutzen. Abendessen kostet knapp 10 €, Frühstück etwas weniger, und wenn man sich da noch eine Stulle für unterwegs schmiert, kommt man eigentlich gut durch den Tag.
Die Hütte ist innen sehr gepflegt und modern ausgestattet, es gibt sogar Heizkörper auf den Zimmern (nächstes „So sinnse, die Südländer“-Gelaber pulverisiert), die dann auch abends losbollern. Das merke ich an der Käseplatte, die ich draufgelegt habe. Na ja, dem Cheddar tut das ja ganz gut.
Schon im Januar, berichtet der Hüttenwirt, ist an den Wochenenden die Hütte gut besucht. Die Wandersaison beginnt Ende Februar und im Juli und August haben die Hütten geschlossen, da kann man aufgrund der Hitze sowieso nicht wandern gehen.
Der Hüttenwirt ist sehr bemüht, dass wir auch ja kein Highlight auf Mallorca verpassen, angefangen bei verschiedenen Wegen auf alle möglichen Gipfel, empfehlenswerte Varianten zum Hauptverlauf des GR 221, bis hin zur ausführlichen Vorstellung des „kleinen Bruders“ GR 222, welcher viel mehr Strand beinhaltet – alles am Bildschirm hinter der Theke, mit Bildern von Strand und von den gepflegten Hütten, die schon halbe Gasthäuser sind.
Außerdem ist am nächsten Tag der 16. Januar, ein wichtiger Feiertag auf Mallorca, weil dort der Bischof Antoni, also St. Antoni gefeiert wird, wie er den Teufel aus der Gegend jagt. Das wird uns auch im Detail erklärt, die Teufel haben geschnitzte Masken auf, die an die in Süddeutschland bekannten Larven der alemannischen Fastnacht erinnern, der würdevolle Bischof im weiten Talar und in hellen, freundlichen Farben mimt den Erlöser und Erretter. Natürlich nimmt das schon Züge eines Volksfestes an, da lodern Feuer, es wird gegrillt, Umzüge finden statt. Aber Obacht, es gibt nur ein einziges Örtchen, wo der Wirt uns versichert, dass wir nur dort der authentischsten Version des Festes beiwohnen können! Da werden spezielle mit Fisch gefüllte Teigtaschen gegessen, die es nur an dem Tag gibt. Natürlich sind die Teigtaschen nicht mit irgendeinem, sondern mit einem ganz speziellen Fisch zubereitet, sonst ist das Fest nicht echt.
Tatsächlich vernehme ich zwei Tage später Grill- und Feuergeruch aus einem hoch umzäunten Schulgelände mitten in Palma und in einer Kirche erspähe ich verkleidetet und maskierte Kinder und Jugendliche. Alles natürlich nicht echt laut dem Hüttenwirt, aber da ich den einzigen Ort mit dem originalen, unverfälschten St. Antoni-Fest vergessen habe, muss ich wohl mit den Plagiaten leben, haha.
Irgendwann sitzen wir alle bei Backkartoffeln und dünnen Fleischstücken am Tisch, mampfen, palavern auf Englisch, und legen ab und an mal ein Scheit in den offenen Kamin in der Ecke. Da ist der Busfahrer aus dem Fränkischen, ein massiger Kerl, der extrem früh losläuft, um die Strecken zu bewältigen. Die spirituell erleuchtete Holländerin, die seit geraumer Zeit auf Mallorca wohnt und esoterische Kurse mit Aromatherapien anbietet, und eine jüngere Wandrerin, die sich in eine entfernte Ecke zurückzieht und gar nicht am Gespräch teilnimmt.
Wir kommen auf unsere Art des Wanderns zu sprechen, worauf ich eine regelrechte Leistungsschau vorführe. Zuerst wird der selbst entworfene und genähte Rucksack präsentiert, das Herzstück meiner Ausrüstung, dann das DIY Tarp und der zur Schlafdecke umgearbeitete Daunenschlafsack. Damit bin ich natürlich der Exot. Meistens interessiert es keinen, womit ich da so herumlaufe. Jeder ist so in seinem Film und überdies sieht der Rucksack professionell gefertigt aus, da kommt keiner auf den Gedanken, dass der selbstgemacht ist. Aber in der illustren Runde gebe ich das alles mal zum Besten. Immerhin habe ich in einem sehr kompakten Rucksack eine komplette Biwakausrüstung, einschließlich Kocher, Brennstoff, Wasservorrat, Isomatte und Schlafsack, und so weiter. Sogar Wechselsachen zum Schlafen sind dabei, Regenjacke und Regenhose sowie eine Daunenjacke. Die Stoppersocken für das Hostel dürfen auch nicht fehlen, ein wenig Komfort darf schließlich auch sein. Es sind immer wieder alle erstaunt, was ich alles an Ausrüstung aus dem Hut zaubere. Es geht ja um leicht und komfortabel, ich mache kein Survival, wie ich immer wieder betone. Grips statt Gewicht – das ist selbstredend nicht alles stumpf zusammengekauft, sondern mit viel Handarbeit und selber Entwerfen über die Jahre verfeinert worden.
Mit der Holländerin tauche ich mich über spirituelle Themen aus, alles auf Englisch. Das verlangt mir einiges ab. Ich, der Ossi aus der DDR-Schule mit Russischunterricht, philosophiere über komplexe Themen der Sinnsuche und persönlichen Weiterentwicklung. Da staunt sogar der Busfahrer, der da nicht mithalten kann. Was die nicht wissen: meine mangelnden Englischkenntnisse hätten mich fast das Abitur gekostet, was ich Anfang der 90er in München im zweiten Bildungsweg mühsam nachgeholt habe. Alles war neu, über Nacht, damals. Alles wurde umgewälzt. Dann ziehe ich auch noch mit 19 so 600 km von zu Hause weg und stürze mich in ein komplett anderes Bildungssystem. Da habe ich teilweise die Aufgabenstellung im Deutschunterricht nicht verstanden, weil mir der spezifische kulturelle Kontext fehlte. Meine mündlichen Beiträge im Englischunterricht waren der Garant für solide Lacher, schlecht Englisch reden auf sächsisch ist schon speziell.
Wie ich so am Kamin sitze und mit der attraktiven, sportlichen Holländerin über dies und das parliere, kommt mir das irgendwie unreal vor. Das kann ich kaum erklären, als ob mein mentales System da hinterherhinkt. Aber es sollte erst noch so richtig skurril werden, Freunde. Jedoch eilen wir im Text nicht vorneweg, sondern am nächsten Morgen nach einem einfachen, aber leckeren Frühstück zur spektakulärsten Etappe der ganzen Woche.
… Fortsetzung folgt!
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