Der Massenwahn
» Artikel vom
Gastautor: p
Tourismus war einmal Erlebnis, Erholung, Aufstieg, Pflichtveranstaltung fürs Zeigen von Wohlstand, Wunschtraum. Für die Reiseziele war das schnell die Hoffnung auf Geschäfte: Höchst eifrig versuchte sich jede Gegend entsprechend zu vermarkten, Besucher anzuziehen, genauer gesagt das Geld der Besucher. Früh entstand eine Tourismusindustrie, vielleicht ist das mittlerweile sogar der grösste Wirtschaftsfaktor der Welt.
Mit den Jahren wurde der Segen in immer mehr Orten zur Geißel. Das lag nicht nur am hemmungslosen Ausverkauf, an Betonbettenburgen am Mittelmeer, am massenhaften Skizirkus in den Alpen. Gegenden erstickten regelrecht. Erst gedachte man, das grosse Geld zu verdienen, dann wurden die Geister unangenehm, die man damit rief. Denn die Geister kamen. Und zwar in Massen. Bis heute immer nur mehr, mehr, mehr. Ganze Städte und Regionen versuchen längst, zu bremsen, zu lenken, zu begrenzen, Amsterdam etwa mit der neuen "stay away" Aktion. Die Stadt hatte zuletzt 21 Millionen Übernachtungen zu verzeichnen, bei einer Gesamtbevölkerung der Niederlande von 17,5 Millionen. In einige Museen kommt man beispielsweise nur noch mit monatelanger Voranmeldung.
Auf dem Land habe ich schon selber vor Jahrzehnten als Kind in kleinem Maßstab einiges erlebt, in einer Gemeinde des Oberallgäus auf 1000m Höhe, touristisch interessant und mit den üblichen Attraktionen ausstattungsfähig. Der Onkel baute ein Haus. Fast kein Einheimischer ohne bereits vorhandene reichliche Ländereien konnte das noch stemmen, die Preise lagen schon damals längst auf Grossstadtniveau. Das Wohngebiet, das da entstand, war nicht gerade klein. Es wurde nur ein Reihenhaus. Das Haus wurde fertig, dann zog die Familie ein und erlebte interessantes Wohnen: Im ganzen Wohngebiet war mein Onkel und seine Familie der einzige Einheimische, der dort wohnte. Und sie waren allein. Alles andere waren Immobilien von irgendwelchen Grosskopfeten, die nur wenige Wochen im Jahr da waren. Lauter gewichtige Persönlichkeiten ohne jeden persönlichen Bezug zum Allgäu, Zweitwohnungen, Drittwohnungen, Geld parken in Betongold. Der Nachbar war ein Rechtsanwalt aus dem Ruhrgebiet, der daneben ein Manager der obersten Ebene von Mercedes-Benz, dann ein Münchner Zahnarzt mit einem teuren Protzgebäude. In 44 von 52 Wochen des Jahres war das einzige bewohnte Haus dort das meines Onkels. Ein Geisterviertel. Im Laufe der Jahre änderte sich das insoweit, dass manche zeitweise nun auch vermieteten, einige im mittlerweile eingetretenen Ruhestand überwiegend herzogen, dann aber doch wieder wegblieben, weil das Allgäu in den Sommerwochen zwar schön ist und im Winter Skifahren lockt, aber die meisten Jahreszeiten ganz anders sind. Den Schneematsch und klamme Finger hatte man meist schon ab Oktober, die Düsternis und Kälte des stark verzögerten Frühlings, das sehen die Touristen nicht und wenn sie ganz herziehen, sind sie frustriert. Und wenn sie dann noch merken, dass der nächste Discounter 15km um den Berg rum ist, es keine Fachärzte vor Ort gibt, dass sie mittlerweile im Sommer auf beliebten Wanderwegen und an allen Freizeitpunkten regelrecht im Stau stehen. Das kühlt doch etwas ab. Da hilft es auch nicht, wenn die Gegend noch Deutschland ist, in den stark fetischisierten Alpen, auf der Karte so schön gelegen genau in der Mitte zwischen Berlin und Rom.
Für die Gemeinde war das nicht mal ein gutes Geschäft. Die Infrastruktur kostet Geld, aber Strom und Wasser werden nicht verbraucht, weil ja meistens niemand da war, die meiste Zeit des Jahres wird kein Geld ausgegeben von den "Immobilieninvestoren". Man versuchte damals, mit allerlei Tricks, etwa hohen Ablese- und Grundgebühren gegenzusteuern. Bei Zweitwohnungssteuern gab es lange ein hin und her. Verdient haben nur Grundstücksbesitzer mit Flächen in Ortsnähe, aber das nur einmal. Der Rest der Einheimischen wurde teilweise Bedienungspersonal, teilweise mussten sie selber wegziehen, teilweise versuchten sie im Fremdenverkehrsgeschäft mitzumischen. Die Molkerei ging an einen Grosskonzern, die Wirtschaften machten auf Alpengaudi und gingen lange Monate des Jahres völlig auf Sparflamme. Im Ort gab es ein grösseres altes Bauernhaus, das hat jemand gekauft, der einen der spinnerten Andenkenläden unterhalb von Schloss Neuschwanstein betrieb. Das Haus blieb unbewohnt und wurde als Lager für den dort verkauften Krempel verwendet, der bevorzugt an Asiaten, Italiener, Amerikaner und andere Touristen verscheuert wurde. Der Garten wurde wie üblich abgetrennt, weiterverkauft und -natürlich- zugebaut. Im Laufe der Jahrzehnte wurde auch die Landschaft stark verändert, etwa Täler mit künstlichen Stauseen geflutet. Nicht zur Stromerzeugung. Und auch der Hochwasserschutz war ein durch und durch verlogener Vorwand, es ging nur um Möblierung für Touristen im Stil einer ehemaligen Tagebau-Kohlegrube. Mit Hundestrand, Bootshafen, Buden, teuer zu bezahlenden Parkplätzen, Liegewiesen, Kabinen, Rundwegen und so weiter. Etwas normaler aber auch oft erstickend zugebaut wurden Teile des Westallgäus, je weniger desto mehr Abstand zum ebenfalls völlig wahnsinnig "entwickelten" Bodensee da ist und die flacheren Teile des östlichen Bereichs, die etwas weiter von den Voralpen entfernt waren. Kein Berg anbei -> Unattraktiv. Das sind dann die Gemeinden, die es mit Golfplatz und Wellness-Hotel versuchten und darauf hoffen, wenigstens von der Kulisse, dem Blick auf die Berge zu profitieren.
Die Möblierung mit Krempel nimmt immer noch zu. Die Alpen sind ein Schwerkraft-Freizeitpark. Alles dreht sich um Schwerkraft, um Höhe. Jede bessere Gegend hat einen Skaiwolk, irgendwelche Baumwipfelpfade, Aussichtsplattformen, Stauwässerchen ohne Ende, mit Bootsplatz, Schdänd-ap-paddelverleih, Bootsverleih, irgendwelche Windsegelspiele, Känioning in Extremo, Abseilen, Hochseilgärten, Waldseilgarten, Gleitschirmvergnügungen, Bergschulen, Freizeitbäder fürs schlechte Wetter, tief ausgelatschte Wanderrouten allerorten, jedes Tobel mit Eintritt und Geländer, jeder Opa fährt mit Oma im SUV an und rollt dann per mitgebrachtem Pedelec stolz auf die Hügel, der coole Nachwuchscontroller kommt aus München mit Kumpels und teuerstem Sportgerät hinter der Karre, Parkplätze, Parkplätze, Parkplätze, Parkplätze. Auf den dazugehörigen Schnellstrassen rollen sie an und durch, die eigentlich schon oft Autobahnen sind, auch wenn noch ein Bundesstrassenschild dranklebt wie an der B19 oder der B12. Jede Hütte mit Kässpätzleangebot, meistens sprachlich verdepperisiert zu Kasspatzn, denn der Tourist wähnt sich in Bayern und hält Bayerisch für die Landessprache, dass das Allgäu so wie das österreichische Vorarlberg oder die Alb, Schwarzwald eine schwäbisch-alemannische Gegend ist, passt nicht zur Erwartung. Regionales ist reine Kulisse. Geteilt wurde die Gegend von Napoleon, was zuerst einen Aufstand verursachte, in dem einige Städte versuchten, die aufgeblasenen Bayern zu erschlagen, denen sie zwangsweise zugeschoben worden waren.
Aber auch anderen Gegenden wird der Ansturm unheimlich. Auf der österreichischen Seite dokumentierte das der Bildband von Lois Hechenblaikner schon vor 20 Jahren. Es scheint auch bei einem immer grösserer Teil der Bevölkerung zum Lebensstil zu gehören, massenhaft grosse und kleine Ausflüge zu machen. Zeit und Geld dafür ist trotz aller Jammerei sehr wohl massenhaft reichlich vorhanden. Man fährt zu irgendeinem vermutlich schönen Punkt und durchläuft dort je nach Alter und Fähigkeiten die typischen touristischen Vergnügungen zwischen bravem Wandern und full Äktschn. Die eigene Wohnumgebung ist hässlich geworden, zugebaut, erstickend, gewöhnlich, man möchte "raus". Um jeden Preis. Dafür zahlt man auch Mautstrassen, teure Park- und Campingplätze und reiht sich bereitwillig in die Massenkolonnen ein, lässt sich abzocken.
Erstaunlich viele Kurzbesucher lassen sich von Kartendiensten und Bildern in sozialen Netzen lenken. Man guckt mal per Google Maps, was da so in Auto-Tagesentfernung geboten ist. Irgendwelche Ortsmarken zeigen auf einen Klick hin, was man dort machen kann. Die Ortsmarken kann jeder erstellen. Darunter reihen sich dann Bewertungen, Rezensionen und Bilder des Punkts von anderen Besuchern. Ich habe mal ausprobiert, welche Wirkung das entfaltet und selbst eine Attraktion erfunden, mit einer Ortsmarke versehen und eine Beschreibung dazu verfasst. In meiner Wohnumgebung, die glücklicherweise nur einen ziemlich schaumgebremsten Besucherstrom kennt. Hier ist Kalkgebiet, es gibt einige tiefe Täler, tiefe und teilweise eindrucksvoll grosse Dolinen, wo unterirdische Hohlräume einstürzten, wilde Klingen, generell kaum Oberflächenwasser, weil alles versickert. Wenn es aber einmal kräftig regnet, füllen sich die Rinnen mit Wasser, viel Wasser, für kurze Zeit stürzen richtige Wasserfälle über hohe Kanten in den Klingen. Erst ist das Wasser bräunlich, dann wird es klar und blau, wenn Schwebstoffe weg sind und der gelöste Kalk übernimmt. Solche Gelegenheiten habe ich an einer geeigneten Stelle fotografiert und eine Geschichte dazu erfunden, dann bei Google Maps als Ortsmarke eingestellt. Bilder des temporären Wasserfalls, spektakulär aussehend, mit einer etwas übertriebenen Hintergrundgeschichte am Ort. Nichts richtig gelogen, nur geschönt, aufgeblasen, ehrlich dazugeschrieben, dass das Wasser aber nicht immer läuft und auch mal trocken fällt. Man kann das positiv schildern, als Schatz, als besondere Gelegenheit, zu deren Erleben man sich glücklich schätzen kann.
Das Ergebnis jetzt, zwei Jahre später: Fünf weitere Rezensionen sind entstanden, 15 neue Bilder von Rezensenten, einige Leute waren enttäuscht, dass das Wasser nicht gelaufen ist, aber nur eine Minderheit. Die meinte offenbar, man könne dort selber Bilder machen wie in den Gumpen am Königssee, die aufgrund einiger Fotos in sozialen Netzen von unbekannt zu einem so wahnhaft übersteigerten Magneten geworden sind, dass sie aktiv abgesperrt werden mussten. Mit den Rezensionen ist zunächst die digitale Sichtbarkeit gestiegen, die Ortsmarke wird schon bei weniger Vergrösserung angezeigt. Auch die Realität hat sich verändert. An der Stelle selbst muss man von einer sehr schmalen, kleinen holprigen Landstrasse aus 50m durch enges, steiles Bruchgehölz gehen und sich dann über schmierige Steine innerhalb der Klingensohle aufwärts hangeln. Jetzt ist da ein richtiger Pfad entstanden, ein Zugang. Offenbar haben massenhaft Radfahrer, Spaziergänger mal sehen wollen, was da eben zu sehen ist. An einer vorher absolut unbekannten Stelle. Äste am Rand sind jetzt abgerissen, man sieht über welche Trittsteine sich das Publikum voranbewegt hat. Und meine Gegend hat nun eine Attraktion mehr.
Diskutiere über diesen Artikel und teile Deine Erfahrungen mit anderen Lesern!
Beachte bitte die Kommentarregeln!
Wenn Du selbst spannende Themen oder interessante Erfahrungen hast, dann schreib doch einen Gastartikel darüber, natürlich völlig anonym. Unser Gastartikelportal mit weiteren Informationen findest Du hier.
Hast Du auf dieser Seite einen Fehler entdeckt? Auf unserer Fehlerhinweisseite kannst Du uns darauf aufmerksam machen und eine Korrektur vorschlagen.