Gastautor: Doktörchen

Die Reise in die Oberpfalz ist lange her. Wieso ausgerechnet die Oberpfalz? Nun, es war das Unbekannte, das Exotische, das Abenteuer, das uns reizte. Jeder kennt oder kannte einen, der schon mal in Afrika war. Oder in Thailand. Oder in den USA. Oder in Arabien. Oder in Australien. Aber Oberpfalz? Da war noch niemand, zumindest kannte ich niemanden, der je dort war, nur einen Oberpfälzer, und der sprach einen sonderbaren, fremdartigen Dialekt, war aber sonst sehr ok. Heute kennt natürlich jeder die Oberpfalz, denn dort lebt ja ER, der fabelumwobene Gründer des weltberühmten Männermagazins, und wer kennt nicht seine Geschichten. Aber das darf ich gar nicht schreiben, das ist tabu, MM-Zensur.

Wir trafen uns also in Bayreuth, bekanntlich die Hauptstadt von Oberfranken. Dort gibt es einen Bahnhof, und wir reisten mit unseren Rädern an. Mein Bruder kam mit seinem topmodernen Sportrad mit 24 Gängen, und ich mit meinem in Würde gealterten Mistradele, immerhin mit der unverwüstlichen und legendären Torpedo-Dreigangschaltung von Fichtel und Sachs ausgestattet, also sogar mit Leerlauf und Rücktrittbremse. Natürlich konnte mein Bruder viel schneller mit seinem Rad fahren als ich mit meinem Mistradele, und damit gab er gelegentlich mächtig an. Dafür hatte ich mir aber eine fette Soundanlage gebaut, bestehend aus einem Pfund Akku und meinem Sony-Walkman plus ein Lautsprecher. Hatte damals nicht jeder, ein Fahrrad mit Sound!

Los ging’s, von Bayreuth (340 m ü. NN) nach Südosten, weil nördlicher viele Berge zu sehen waren: die Gipfel des Fichtelgebirges. Bayreuth - Seybothenreuth – Speichersdorf – kleine kurvige Straßen, nur etwas hügelig, aber kaum Autos und deswegen gut geeignet zum Radeln, wir kamen daher gut und gut gelaunt voran. Und dann erhob sich weit vor uns ein einzeln stehender, hoher Kegel: der Rauhe Kulm, laut wiki ein nie ausgebrochener Vulkan und „einer der imposantesten Basaltberge Bayerns“. „Wir fahren eine andere Straße, außen rum“, schlug ich vor. „Ach was, welcher Idiot würde schon eine Straße über den einzigen hohen Berg weit und breit bauen? Das geht schon“, entgegnete mein Bruder (mit seinem Rad mit 24 Gängen).

Was wir nicht ahnten: wenige Kilometer vor dem riesigen Vulkan begann die Oberpfalz, und in der Oberpfalz ist vieles (oder alles?) anders. Inzwischen war es nachmittags, und es ging steil bergauf, die Sonne im Rücken, und weiter bergauf. Nach etwa einer Stunde war es geschafft: Die Straße ging tatsächlich nicht über den Gipfel, aber Neustadt am Kulm liegt immerhin 523 m hoch. Noch bevor wir oben ankamen, sprang meinem Bruder die Kette vom Zahnrad. Das passierte dann noch einmal. Oben einigten uns, dass die Aussicht den Anstieg wert gewesen war und fuhren im gleichen Augenblick wieder hinunter.

Irgendwo zwischen Löschwitz und Köglitz verzogen wir uns in den Wald, campten und entzündeten ein schönes Lagerfeuer. Wir hatten es ganz gemütlich und rauchten was, so wie wir es in „Easy Rider“ gesehen hatten. Mein Bruder hatte eine schöne große Tüte mitgebracht. Ich hatte nämlich damals schon gelernt, wie man nahezu unendliche Mengen an Pflanzen aus kleinen Samen und versteckt in welchen Brennesselfeldern oder an abgelegenen Flußufern großziehen kann. Und mein Bruder hatte damals schon herausgefunden, wo ich die Ernte bunkerte. Nun gut, immerhin teilte er mit mir.

Da – Geräusche. Menschen! Zuerst waren es zwei: junge Mädchen aus dem nahen Dorf. Dann noch welche. Und am Ende sechs Mädels, leider doch ziemlich jung, so 12 bis 14. Wo wir denn herkommen? Aus Bayreuth „Ui, aus der Großstadt!“ Hm, ja, so an die 50 000 Einwohner hatte es damals schon. Fortan hingen sie an unseren Lippen und lauschten den Neuigkeiten und Geschichten und der Musik aus der großen, weiten Welt, in der sie wohl noch nie gewesen waren.

Und so ging’s auf dieser Reise weiter: wo immer wir auftauchten, erregten wir ganz schön Aufsehen. Touristen! In der Oberpfalz! Von den freundlichen Menschen dort gleich mehr. Zunächst mal verbrachten wir eine angenehme erste Nacht in dieser sagenumwobenen, unbekannten Oberpfalz. Am Morgen schien wieder die Sonne. Kurz nach der Abfahrt stellte Brüderlein fest, dass irgendwas an der 24-Gangschaltung nicht stimmte: vorne sprang immer wieder die Kette raus, außer in einer Stellung. Er hatte jetzt also ein Acht-Gang-Rad. Immerhin, fünf mehr als mein Dreigang-Mistradele. Dafür hatte ich coolen Sound: Hanging around (Stranglers), Nur geträumt (Nena), Stairway to Heaven (Led Zeppelin), Free Bird (Lynard Skynard), Reise nach Jerusalem (Spliff), Hinter den Bergen (Grauzone). Born in Xixax (Nina Hagen) und überhaupt viel Neue Deutsche Welle. Junge, wir können so heiß sein ...

Weiter ging’s Richtung Osten. Unser primäres Ziel war das Ende der Welt: die Zonengrenze. Denn zu den damaligen Zeiten gab es noch den eisernen Vorhang, und kein Punkt der Erde war weiter entfernt als die andere Seite des Grenzzaunes. Zwischen dem amerikanischen und dem sowjetischen Sektor gab es elektrische Zäune, Stacheldraht, Minenfelder, Wachtürme und Selbstschussanlagen. Da war kein Durchkommen. Aber östlich von der Oberpfalz lag die Tschechoslowakei, nicht die DDR. Und niemand, mit dem ich je gesprochen hatte, war schon mal an dieser Grenze gewesen oder hatte sie auch nur gesehen. Das war also unser Ziel.

Hinter Tirschenreuth, etwa 70 bis 80 km östlich von Bayreuth und 504 m ü NN kommt noch Bärnau (611 m ü NN). Dort reizte uns das Schild „zur Naabquelle“, und weiter und weiter aufwärts fuhren wir Richtung Waldnaabquelle. Und so kamen wir zu einer abgelegenen Blockhütte kurz vor der Grenze, vermutlich das, was google heute als „Petrushütte“ bezeichnet (800 m ü NN): eine vorne offene Hütte, eingerichtet mit Holztisch und Holzstuhl. Immerhin mit Ofen! Und es war kalt, da der Wind pfiff.

Gottverlassene Gegend. Um uns nur Wald, dichter, dunkler Fichtennadelwald. Sonnenlos, einsam, nur das Rauschen des Waldes zu hören. Ein schmaler Waldweg und ein Schild „Halt! Weitergehen verboten. Grenze. Lebensgefahr!“ Echt jetzt? Die würden auf uns schießen? „Glaub ich nicht“, sagte ich und ging los, angenervt von der Ödnis. Nix war da. Keine Grenze, kein Stacheldraht, kein Schuss. Nur ein Grenzschild. Also eher enttäuschend. Wir kehrten wieder um und saßen in dieser elenden Hütte. „Fahr mal in’s Dorf und hol 'nen Porno“. Hat er tatsächlich gemacht, der liebe Bruder, von einer Tankstelle. Brachte aber auch keine Wärme in die Bude. Es war und blieb voll öde da oben am Weltenende. So sind sie eben, diese Enden der Welt: nix los, keiner da, nix passiert, nix wie weg.

Nach weniger als zwei weiteren Stunden – der Abend nahte – änderten wir den Plan. Da oben wollten wir nicht bleiben, wir drehten um und fuhren zurück ins „Tal“, nach Tirschenreuth. Hui, das war eine Fahrt! Abwärts ging’s mit wehenden Fahnen, von 800 m auf 500 m in weniger als einer Stunde. In Tirschenreuth fragten wir die erste Passantin, die wir trafen, nach einer Kneipe. „Es gibt zwei, A und B. Aber so, wie ihr ausseht, geht ihr am besten zu B.“ Was eine gute Wahl war. B war eine dieser Dorfkneipen mit Musik, in der die Dorfrocker und Späthippies der Gegend sich trafen. Die Musik war gut und laut, die Stimmung bestens. Wir wurden gut aufgenommen, viele Gespräche (ja, die Oberpfälzer haben eine eigenartige Aussprache, aber geht schon), und getanzt haben wir auch. Die Stimmung in der Kneipe wurde immer besser, je später es wurde, und keiner dachte daran, heim zu gehen. Also ging’s nach der Sperrstunde in ein Privatappartement. Der Oberspäthippie spielte Gitarre, wir sangen, die Stimmung war nach wie vor bestens.

Es war schon heller Tag, als wir uns hinter den Ortsrand verzogen, um vielleicht doch noch ein bißchen zu schlafen. Ehe wir weiterfuhren, suchte und fand Brüderlein noch die Ursache für das Kettenproblem: Der Kettenspanner war kaputtgegangen. Was tun? Spanner wegwerfen und Kette auf passende Länge kürzen, mehr war ohne Ersatzteile nicht machbar. Von nun an hatte er ein modernes 1-Gang-Rennrad, das wieder problemlos fuhr. Also zurück in die „Großstadt“ mit Bahnhof. Freundlich, wie ich bin, wartete ich meistens, bis mein Bruder mit seinem modernen 1-Gang-Rad hinterherkam, damit er auch Musik hören konnte, und damit ich ihn ein wenig wegen seines Mistfahrrades necken konnte.

Das also waren unsere drei Tage in der Oberpfalz. Wenig andere Reisen waren so ungewöhnlich, so aufregend und so abenteuerlich wie diese, und deswegen kann ich die Oberpfalz allen Reisenden guten Gewissens weiterempfehlen. Ach ja, die Bootstour bei Regen auf dem Regen durch Regen in der Oberpfalz war auch gut, doch davon vielleicht ein andermal.
Dankeschön fürs Lesen. Diskutiert über diesen Artikel, schreibt weiterhin so viele Kommentare, röhrt gelegentlich und schreibt ab und zu mal einen Artikel für das MM.

Quellen und Literatur: https://de.wikipedia.org/wiki/Rauher_Kulm_(Oberpfalz)



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