Versager!
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Gastautor: Pissköter
Ich bin ein Versager.
Ich war schon immer ein Versager.
Mein Leben war ein ständiges Scheitern.
Das fing schon als Kleinkind an. Wo andere Kinder mit acht Monaten ihren ersten Halbmarathon gewinnen, ließ sich mein Körper Zeit. Viel Zeit. Bis zum zweiten Lebensjahr sollte es dauern, bis ich endlich alleine laufen konnte. Bereits hier zeichnete sich mein gesamtes weiteres Schicksal als Versager ab. Schnell ging bei mir nichts. Nie. In die Schule kam ich daher auch erst mit sieben Jahren, weil mein Körper im Wachstum einfach zu langsam war. Die zehnte Klasse habe ich einmal wiederholt und das Abitur bestand ich mit Ach und Krach. Dann kam die Führerscheinprüfung. Gas geben, schalten, kuppeln, auf den Verkehr achten, bremsen, anfahren. Und das alles gleichzeitig. Ich war völlig überfordert und fiel auch prompt beim ersten Versuch durch. Was wollte man von einer lebenden Wanderdüne wie mir auch anderes erwarten?
Meine suboptimale Reaktionsgeschwindigkeit sollte auch bei der Bundeswehr nicht besser werden. Bis ich in Bewegung kam, stand jeder Feind tief in den eigenen Reihen. Aber dieser Spuk dauerte ja nur 15 Monate. Dem Dienst fürs Vaterland folgte ein Studium der Rechtswissenschaft. Was waren meine Eltern stolz! Unser Sohn wird Rechtsanwalt! Aber ach! Was ich mit Begeisterung angefangen hatte, erwies sich als eine endlose, zähe Zeit des hirnlosen Lernens und Paragraphenpaukens. Und was macht man als Student, um der Langeweile zu entkommen? Man schafft sich eine Freundin an. Doch auch hier erwies ich mich wieder als Versager. Zu kleiner Schwanz und Schnellabspritzer. War ich sonst immer und überall Letzter, kam ich für kurze Zeit in meinem Leben immer als Erster. Meine beiden Freundinnen wechselten verständlicherweise ganz schnell zu attraktiveren, sportlichen, jungen Studenten und ich Versager wechselte um auf Handbetrieb. Das Studium zog sich dann noch zwei langweilige Jahre. Endlich trieb ich mein Versagen auf die Spitze und fiel im ersten Staatsexamen gleich zweimal hintereinander mit Pauken und Trompeten durch. Ein drittes Mal wiederholen ging nicht. Und so stand ich nach 14 Semestern Jurastudium blöd da und war mangels Abschluss nur ein Abiturient mit Rechtskenntnissen.
Daheim war die Enttäuschung groß. Die Eltern tobten und nannten mich – hört, hört! – einen Versager, der es nie zu etwas bringen würde, weil ihr großer Traum vom Rechtsanwaltssohn geplatzt war.
Was also tun? Eine Affinität zu Büchern hatte ich schon immer und nach einer mittelmäßigen Ausbildung zum Bibliothekar landete ich mit Anfang 30 dort, wo die meisten Versager landen: im öffentlichen Dienst, in meinem Fall im Bibliotheksdienst.
Der öffentliche Dienst ist das natürliche Habitat des Versagers. Alle, die es im harten Lebenskampf zu nichts bringen; die nicht den Biss haben, um in der freien Wirtschaft zu überleben, die bereits nach acht Stunden körperlich und geistig am Ende sind, landen irgendwann an einem Schreibtisch im öffentlichen Dienst. Während der technische Verwaltungsdienst noch halbwegs Wissen und Erfahrung voraussetzt, stehen die Bibliotheken ziemlich an der Spitze, was die Beschäftigungsquote an Lebensversagern betrifft.
Als ich als Vollversager gegen Ende des 20. Jahrhunderts in einer mittelgroßen Bibliothek am Rhein landete, hatte die Digitalisierung in den Bibliotheken noch kaum begonnen. Vieles musste noch mit Papier, Bleistift, Aktendeckeln und endlosen Zettelkatalogen erledigt werden. Leistung ist Arbeit in einer bestimmten Zeit. In der Physik mag das gelten, aber im öffentlichen Dienst ist das völlig egal. In Bibliotheken sowieso. Im Grunde waren die Bibliotheken damals wenig mehr als eine Art beschützende Werkstatt.
Die meisten die dort landeten, waren eine Mischung aus lebensfremd, faul, verpeilt, verblödet, vertrottelt, vereinsamt oder eben wie ich: Versager. Und das betraf alle Dienstgrade von der Direktion angefangen bis herunter zu den Putzfrauen.
Als Bibliothekar in der Auskunft hatte ich insoweit eine gewisse Sonderstellung, weil ich in ständigem Kontakt mit dem Schrecken, dem Grauen stand. Für eigenbrödlerische Bibliothekare ist das kein Geringerer als der Kunde, der leibhaftig präsente Leser. Aber während die verhuschten grauhaarigen und ungefickten Bibliothekarinnen die Auskunft fürchteten wie der Teufel das Weihwasser, war mir das egal. Da ich als Versager jeden Konflikt scheute und von Natur auf harmoniebedürftig war, fiel es mir nicht schwer, einfach nur zu lächeln und nett zu sein.
Nett ist die kleine Schwester von Scheisse. Wer sich nicht durchbeissen kann, wer nicht mit der Faust auf den Tisch schlagen kann, wer nicht knallhart und skrupellos gegenüber seinen Mitmenschen Macht ausüben kann, versagt im Lebenskampf und muss es mit Nettsein versuchen. Und es gelang mir. Als Versager hatte ich mich längst in dieser Geisteshaltung eingerichtet. Jeden Tag zwanzigmal gefragt zu werden: Wo ist denn hier das Klo? Hamse was von Karl May? machte mir nichts aus. Lächeln, nett sein und auch am Telefon zum hundertsten Mal die Öffnungszeiten der Bibliothek runterzubeten, war kein Problem.
Als Vollversager wollte ich einfach keinen Stress und keinen Streit. Ich wollte mich nicht streiten, wie die giftigen Kolleginnen von der langen Buchausgabe-Theke vom Schalter L – R, deren Dauerthema es war, dass sie angeblich mehr zu arbeiten hätten als die blöden Kühe von Schalter A – K. Ich wollte mich auch nicht mit den Kollegen des gehobenen Dienstes streiten, die sich als erwachsene Männer schon vor der ersten Kaffeepause gegenseitig laut anschrieen, weil nach den Regeln der Allgemeinen Katalogisierung an einer bestimmten Stelle einer Katalogkarte ein Komma statt ein Semikolon zu setzen sei. Auch die langatmigen Diskussionen des Höheren Dienstes mit dem Bibliotheksdirektor über die zukünftige Ausrichtung der Bibliothek gingen an mir vorüber. Als Versager hatte ich mich bequem in der Auskunft eingerichtet. Ich lebte nach dem bekannten Bonmot von Loriot: Ich will doch nur hier sitzen.* Und es funktionierte.
Gemächlich und stressfrei zogen die Jahre ins Land. Kolleginnen gingen in Pension, neue Kolleginnen kamen. Aus tabulosen, blonden, jungen, drallen Bibliotheksschlampen wurden fette, grauhaarige Muttis, die schwanger wurden und stolze Häuslebauer waren. Die alte Direktion ging, ein neuer Direktor kam. Als die Digitalisierung auch in die Bibliothek Einzug hielt, saß ich immer noch an meinem Auskunftsplatz. Meinen Schreibtisch zierte jetzt sogar ein PC mit einem Flachbildschirm. Sa-gen-haft! Was ich früher im persönlichen Gespräch mitteilte, erledigte mehr und mehr der Online-Katalog der Bibliothek. Und so starben die letzten lesenden Generationen weg und neue Leser wuchsen keine mehr nach. Es gab ja alles online.
Es wurde still in der Bibliothek. Totenstill. Als die Bibliothek durch Corona endgültig zur Leichenhalle wurde und die Spinnen in den Ecken der Auskunft die letzten Lebenszeichen einer längst ausgestorbenen Kulturinstitution waren, saß ich immer noch vor meinem Bildschirm und erkannte endgültig, dass ich ein Versager war und meine Lebenszeit vor einem flimmernden Rechteck verschwendete. Dann kündigte ich fristlos.
Das war vor drei Jahren. Als geborener Profi-Vollversager habe ich nichts: keine Frau, keine Kinder, kein Haus, keine Wohnung, kein Boot, kein Auto, kein TV, keinen Hund. Nichts.
Das Einzige, was mir bleibt, ist eine Frage:
Gibt es ein Leben vor dem Tode?
Ob ich je die Antwort darauf finde? Ich glaube nicht. Denn:
Ich bin ein Versager.
Ich war schon immer ein Versager.
Mein Leben war ein ständiges Scheitern.
Das fing schon als Kleinkind an.
- siehe Youtube: Loriot - Feierabend. Ich will doch nur hier sitzen.
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