• 24.04.2024

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Vogelgezwitscher

spatzen

» Artikel vom

Gastautor: Max

Seitdem ich im Homeoffice sitze, bin ich quasi zum Hobbyornithologen geworden. Ich blicke auf einen langweiligen Hinterhof. Die einzige Bewegung waren die Autos, welche im Minutentakt unter meinem Fenster parkten. Dachte ich bisher. Homeoffice änderte diese Ansicht. Wer kann schon acht Stunden am Stück produktiv arbeiten. Vielleicht habe ich länger aus dem Fenster geschaut als in den Monitor. Und da sind mir die Spatzen aufgefallen. Deren Entwicklungsgeschichte über das Jahr möchte ich euch beschreiben.

Es sind die Spatzen auf den Dächern der gegenüberliegenden Häuser. Ich beobachte sie den ganzen Tag über. Manchmal auch außerhalb meiner Arbeitszeit, aber auch nur manchmal.

Es fängt im Winter an. Im tiefen Allgäu ist um diese Jahreszeit stets mit Dunkelheit, Kälte und Schnee zu rechnen. Im Prinzip sagt es das Wort „Winter“ schon aus, aber möglicherweise ist das nicht jedem bewusst. Während ich bei 50cm Neuschnee meinen Wagen um 06:30 vom Schnee freischaufle, sitzen die Spatzen mit ihrem dicken Gefieder in den Büschen und drehen sich höchstens nochmals um, damit sie nicht von ihrem Schlaf gestört zu werden. Ab und zu gehe ich eben doch in die Firma. Firma? Kennen Spatzen nicht. In dieser dunklen, kalten Umgebung im Winter habe ich noch nie irgendeinen Vogel zwitschern hören. Freischaufeln? Frontscheibe vom Eis befreien? Das kennen Spatzen auch nicht. Arbeit ist für sie ein Fremdwort, wie für die arbeitende Gesellschaft „6 Wochen Urlaub am Stück“.

Das Leben vor meinem Fenster erwacht im März. Während ich schon zwei Stunden vor Sonnenaufgang vor meinem Arbeitslaptop sitze, fliegt der erste Spatz vor meinem Fenster vorbei. Sie halten es offensichtlich nicht für nötig, Laptops anzuschalten. Oder gemeinsame Teammeetings abzuhalten. Einfach losfliegen, reicht für sie.

Im April hat jedes Spatzenmännchen ein Spatzenweibchen abbekommen. Jedes? Keine Ahnung. Vielleicht auch nicht. Wer kein Weibchen abbekommen hat, der hat Ruhe bis zum nächsten Jahr. Jedenfalls geht es auf dem Dach gegenüber ganz schwer zur Sache. Es wird an der Grenze der Physik geflogen, um die Weibchen zu beeindrucken. Offensichtlich funktioniert es. Und es wird gevögelt, als ob es Frühling wäre. Was würde passieren, wenn sie ein Gesellschaftskonstrukt wie die Menschen hätten? Ich stelle mir vor, wie ich ein heißes Mädchen auf den Dachziegeln der Häuser gegenüber rannehme. Mensch, was wäre da los! Die Polizei stünde darunter und riefe, wir sollten endlich herunterkommen. Die ganze Nachbarschaft gaffte, weil sonst nichts Spannendes im Hinterhof passiert. Vom Besitzer des Dachs hätte ich noch eine Anzeige bekommen. Ach, vögeln auf fremden Dächern macht als Mensch keinen Spaß.

Mai. Die Eigentumsverhältnisse für den besten Nistplatz werden ausgehandelt. Wer keinen Platz in den Büschen ergattert hat, der kämpft um einen Platz in der Dachrinne bei mir gegenüber. „Unvergesslicher Blick in den Sternenhimmel!“, hätte ein Makler geschrieben. Unvergesslich ist der Platz sicherlich, wie sich später zeigt. Verhandelt wird jedoch nicht mit Anwalt, sondern mit Schnabel, Füßen und Flügelschlägen. Wenn zwei „Interessenten“ im offenen Raum (also in der Luft) zusammenkommen, gibt es einen interessanten Argumentationsaustausch (Kampf), die zwei Interessenten treffen sich in der Luft und fallen kämpfend zum Boden. Wer gewonnen hat, kann ich nicht nachvollziehen, das bleibt Vogelgeheimnis. Interessant sieht es zumindest aus. Jedenfalls nisten sich einige Spatzenehepaare in die Dachrinne bei mir gegenüber ein. Es geht mit dem Sourcing los. Zu Deutsch: Materialbeschaffung. Bei jedem Flug wird ein Zweig mitgeführt. Manchmal auch ein Streifen von einer abgerissenen Plastiktüte. Nachhaltiger Nestbau wird also auch von Spatzen praktiziert, ganz ohne Compliance-Officer. Wie sieht es derweil bei den Menschen aus? In meiner Gemeinde wurden in derselben Zeit zwei Nistplätze – ich meine Baugebiete – eröffnet. Bewerbung nur als Familie zulässig. Bewerbungsunterlagen müssen das Wärmekonzept berücksichtigen. (Es gibt eh nur eine Möglichkeit – Fernwärme, was der ganze Firlefanz soll, kann ich mir nicht vorstellen. Doch, kann ich mir, Abzocke!)

Mitte Mai. Die Eigentumsverhältnisse sind geklärt. Jedes Spatzenmännchen hat ein Weibchen gefunden. Jedes Spatzenweibchen hat ein Männchen gefunden. Es wird geflogen, gevögelt, gefressen, gesungen was das Zeug hält. Eine wahre Pracht. Es hält nicht lange. Den ganzen Aufwand für ein paar Tage? Keiner zählt die Tage nach.

Ende Mai. Es regnet in Bindfäden. Schrecklich. Glücklicherweise bin ich unter einem Dach und sehe durchs Fenster nach draußen. Aber halt, die Spatzen gegenüber in der Regenrinne können das nicht von sich behaupten. Die, mit „dem unvergesslichen Sternenblick“, was machen die? Ich sehe sie nicht. Es dauert nur wenige Minuten. Die Dachrinne quillt über, das Wasser sprüht vollkommen über. Danach ist es vorbei. Richtig kitschig, mit Regenbogen und so. Aber die Spatzen gegenüber in der Regenrinne sind fort. Sie sind weggespült, hatten den schlechtesten Nistplatz und haben es jetzt endgültig einsehen müssen. Tja. So ist das. Sie haben nächstes Jahr eine weitere Chance. Vielleicht hat sich dieses Ereignis in die Epigenetik einprogrammiert. Wenn nicht, dann wird sich dieses Ereignis bis ins Unendliche wiederholen. Und? Kümmern tut es keinen. Ich denke an die Mietnomaden in Stuttgart oder Ulm. Arbeiten bis zum Umfallen in der Region und können keinen dauerhaften Nistplatz aufbauen. Und? Kümmern tut es auch hier keinen.

Anfang Juni. Die Naturgewinner überleben. Natur? Möglich. Die, dessen Eltern sich durchsetzen konnten, haben gewonnen. Vielleicht verreckt noch das ein oder andere Kind an irgendeiner Krankheit. Im Großen und Ganzen ist das so. Die Vogelkinder kommen in die Schule. Schule übernehmen die Eltern noch selber. Auf dem Stundenplan stehen fliegen lernen, fressen und vor Feinden davonfliegen. Durchaus interessante Teilgebiete. Immerhin interessanter als Grammatik oder Mathematik. Bei den Eltern ruft auch kein Schulpädagoge an, weil der kleine Björn-Torben wieder mit Lilly Stress hat, weil er ihr den Biojoghurt in die Haare geschmiert hat. Nein, wer in der Schule des Lebens nicht aufpasst, der wird entweder von der Katze gefressen, verhungert oder wird von den schlaueren Vögeln ausgefickt. Also mit fremden Kindern überrannt und … Ich meine, mit Nachwuchs in einen Aktionsvektor gedrängt. Ach, was soll die Suche nach dem richtigen Term, überleben tut nur, wer die richtige Strategie anwendet. Und die ist nie sozial gegenüber den Schwächeren. Vögel haben im Übrigen kein Sozialverhalten gegenüber anderen Vogelfamilien. Bist du in der falschen Vogelfamilie geboren, dann verreckst du. So einfach ist das bei denen.

Juli. Der Juli war dieses Jahr vogeltechnisch sehr ruhig. Keine Ahnung, woran das gelegen hat. Letztes Jahr sind die Vogelfamilien auf meinem Balkon gelandet und haben ihrem Nachwuchs erzählt, dass es außer maskulinem Hate bei mir nichts abzustauben gibt. Dieses Jahr blieb so ein Familienausflug aus. War es, weil die Hälfte der Spatzenfamilien durch ein Unwetter davongespült wurde? Einmal im Jahr kommt auch der Bussard zu Besuch zu der Spatzenfamilie. Zum Kaffeekränzchen kommt der nicht. Das sehe ich schon an dem Respektabstand des Spatzenmännchens. Was hat er im Nest gesucht? Konnte ich nicht sehen. Kaffee war es sicherlich nicht. Eher das nahrhafte Spatzenküken. Die Spatzeneltern waren nach dem Besuch auch äußerst aktiv und unbeholfen. Wahrscheinlich hat er sich eins der Kinder geholt. Hat es jemanden interessiert? Nein. Nach zehn Minuten sind auch die Spatzeneltern zur Normalität übergegangen. Außer mir hat sich niemand für das Ereignis interessiert. Keine Behörde, keine Gemeinde, den Verlust der eigenen Brut kann man nicht bei der Steuer geltend machen. Ein Kind zu verlieren, ist schlimm. Noch schlimmer ist es, wenn sich keine staatliche Behörde darum kümmert.

Was lernen wir aus dieser Vogelbeobachtung? Als kleines Kind – speziell als Vogelkind – liegt dein Schicksal in den Händen deiner Eltern. Haben sie einen massiven Fehler begangen, dann bist du verloren. Im Vogelreich gibt es genug Konkurrenz. Als Kind schlecht wirtschaftender Eltern ist dein Leben als Vogel nun höchstwahrscheinlich zu Ende. Wenn du jetzt noch lebst, bist du das Produkt einer gut wirtschaftenden Vogelfamilie. Jetzt liegt es an dir, dich und deine Nachkommen gegen all die Widrigkeiten des Lebens auf dieser Erde zu verteidigen.



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