• 19.06.2024

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Zäsur, ein Prequel

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» Artikel vom

Gastautor: Sire Archibald

Zäsur bezeichnet in der Geschichtswissenschaft einen markanten Einschnitt, also die Grenze zwischen zwei Epochen. Zäsuren sind damit ein zentrales Mittel der Periodisierung (aus der Müllhalde des Schwarmwissens).

Natürlich gab es einige Zäsuren in meinem Leben, mit unterschiedlichem Impact hinsichtlich Quantität und Qualität. Das hört nicht auf, nur weil man älter wird. Man verdaut es meist nur besser (schneller, leichter). Hier geht es um meine (zur Zeit) letzte relevante Zäsur, das Prequel zu "Aus dem Leben eines Langeweilers".


Wie alles anfing:

Blogeintrag 2015.01.01 "Mein 2014"

Was gab es Besonderes für mich im Jahre 2014, aus fotografischer Sicht gesehen? Nichts! Ein ereignisloses Jahr, aus fotografischer Sicht. Die letzten Objektivanschaffungen (und Verkäufe) waren 2013.

Meine Mutter wurde immer dementer, war aber noch in einem Rahmen, der mich nicht allzu sehr einengte. Fiel ja nur auf, wenn man im selben Haus wohnte. Für alle anderen war sie eine rüstige alte Dame, die mit ihren 90 Jährchen immer noch mit dem Fahrrad zum Friedhof radelte und die diversen Gräber pflegte. Über Tagespolitik konnte man sich auch mit ihr unterhalten, sie hatte Meinungen und konnte sie auch gut in Worte fassen. Das änderte sich dann schlagartig in der zweiten Jahreshälfte, als sie nach einem Sturz und daraus resultierender längerer Bettlägerigkeit eine Lungenentzündung bekam und ich sie daraufhin ins Krankenhaus einliefern ließ (Wochenende, klar).

Die Lungenentzündung war, trotz ihres hohen Alters, eher trivial. Weniger erfreulich (Euphemismus) waren die Ergebnisse der vorgenommenen Ultraschalluntersuchung und der darauf folgenden radiologischen Untersuchungen. Krebs, viel Krebs, Leber, Darm, wo der halt so rumstreut. Operativ nicht mehr behebbar, schlechte Prognose, sie wurde zur Palliativpflege nach Hause geschickt.

Ein eher mildes, leicht verträgliches Zytostatika („Chemotherapie“) im unteren Dosierungsbereich (Xeloda, 4 Tabletten täglich), ansonsten nix. Ob sie ihren 92sten Geburtstag (1. Nov) noch erleben würde, oder gar Weihnachten… Ärzte geben ja keine Prognosen mehr über die Restlebenszeit ab, aber es sei sicher sinnvoll, mich darauf vorzubereiten, dass ich Weihnachten wahrscheinlich alleine verbringen würde und Silvester wohl eher nicht mehr, statistisch gesehen.

In den 70ern ging ich zur Bundeswehr. Ich bin kein Pazifist und bei schlechtem Wetter durch den Schlamm zu robben reizte mich zwar nicht wirklich, aber als Zivi Ärsche abputzen entsprach noch weniger meinen Vorstellungen, 15 Monate im Vergleich zu 24 war auch ein Pro-Argument. Dazu kam dann noch, fast pünktlich zum Erreichen der Volljährigkeit schmiss ich die Schule (was nicht das einzige war, das ich "schmiss"), was mein Vater folgerichtig durch einen Rausschmiss honorierte. Später, viel später einmal, als wir uns versöhnt hatten, meinte er, er sei damals stolz auf mich gewesen, weil ich nicht vor ihm gekuscht habe, wie es mein älterer Bruder getan hätte (und oft genug getan hat). Und wo lässt es sich am leichtesten eine Pause zur Orientierung einlegen? Genau, beim Verein für Bürger in Uniform, die Sicherheit produzieren, oder irgendwie so ähnlich. Rückstellung wegen Abi aufgehoben, nächstmöglichen Einrücktermin genommen, die Zeit dazwischen lungerte ich in ein paar WGs ab.

Inzwischen ist das, also Arsch abputzen, ein (eher unerheblicher) Teil meiner 24/7 Pflege. Wir kämpften, ich päppelte meine Mutter wieder hoch, aber wie angekündigt („als nächstes ist wohl ein Darmverschluss zu erwarten“) kam der Darmverschluss (Wochenende vor Weihnachten, klar) und sie kam zur Not-OP ins Krankenhaus. Die überlebte sie, genauso wie die ein paar Wochen später sichtbar werdende Blasenentzündung… Notarzt, Einweisung ins Krankenhaus (Wochenende, war klar), resistente Krankenhauskeime. Inzwischen sind wieder ein paar Wochen vergangen, ich habe meine Mutter wieder hochgepäppelt, förmlich gemästet. Sie ist zwar bettlägerig, kann auch nicht aufstehen oder auch nur alleine stehen, aber ansonsten „gut drauf“. Die Chemotherapie („ist ein bisschen wie Roulette“ sagte der Onkologe) hat bei ihr, ohne größere Nebenwirkungen, angeschlagen, der Krebs wächst momentan nicht mehr. Ist natürlich nur ein Aufschub und kein Genesungsprozess. Sie ist 92, aus Sicht der behandelnden Onkologen war die Wahrscheinlichkeit, dass sie altersbedingt stirbt, schon einige Zeit signifikant höher, als dass der Krebs sie umbringt. Der Chefarzt der Onkologie meinte auch, er würde gerne mit 92 Krebs bekommen, so alt muss man ja erst mal werden. Onkologen haben auch Humor.

Statistik, Scheiß drauf, man kann auch mal Glück haben. Einerseits stand Heimunterbringung, außerhäusige Pflege nie zur Debatte, andererseits hat sich sicher niemand vorgestellt, dass zur Pflege nur noch ich zur Verfügung stehen würde. Die Verwandtschaft vor Ort? Schwamm drüber! Mein Bruder, selber Arzt? Aber der war eh raus, zu weit weg und Hausverbot von meiner Mutter aus. Was ich in den Wochen und Monaten an Hilfreichem und weniger Hilfreichem erlebte, was das mit mir macht, würde jetzt schon für ein Buch reichen.


Blogeintrag 2015-08-09 "Guten Morgen, wie hast du geschlafen?"

Als Antwort zuerst ein unbestimmbarer Grunzlaut und dann ein unmissverständliches, „leck mich“, für eine demente 92-Jährige ein interessanter, überraschend moderner Sprachgebrauch. Gut gelaunt sieht jedenfalls anders aus, es hat dann auch gut eine Stunde gedauert, bis sie das übliche Morgenritual (Toilettenstuhl, „Frühstück“, Medikamente) hinter sich gebracht hat. So fangen zurzeit die „guten Tage“ an! Es geht zu Ende mit ihr und sie weiß das auch.

Bei schlechten Tagen z.B. hat sie sich nachts die Windeln ausgezogen, das Bett verschissen (nicht nur) und das Morgenritual dauert 2 Stunden und ich kann froh sein, wenn ich ihr an solchen Tagen dann noch ein Minimum an Flüssigkeit und Kalorien zuführen kann.


Blogeintrag 2015-09-18 "Soifz"

Nach fast einem Jahr Palliativpflege geht es nun steil abwärts. Sie hat seit Monatsanfang nichts mehr gegessen und bekam seitdem nur noch Infusionen gegen Austrocknen. Morgens kommt der Pflegedienst für die Grundhygiene, einmal die Woche ruft der Mann von der Brückenpflege an, um sich nach ihrem und auch meinem Befinden zu erkundigen, aber weitergehende Hilfe kann er auch keine geben… okay, ein Schwätzchen tut ja auch ganz gut. Die Unterstützung der Sippe beschränkt sich, ach Schwamm drüber, sonst müsste ich heulen und danach Amok laufen.

Was draußen vor der Tür passiert, viele Fragen, wenig Antworten und das Fehlen von Betroffenheit, das macht mich zurzeit aus. Wirklich überraschen tut mich da aber nichts. Dass es eines Tages mal diese Form der Völkerwanderung geben würde, thematisierte mein Vater ja schon in den 60/70ern (Kurzform: irgendwann werden die Ausgebeuteten aus ihren zerfallenden Staatsgebilden einfach der Spur ihrer Bodenschätze folgen und an unsere Tür klopfen). Nuja, er war in den 60ern zwei Jahre für die UN in Afrika, er hatte Erfahrungen vor Ort gemacht, was ihn deutlich von den politischen Sesselpfurzern in Deutschland unterschied. Lösungen dafür gibt es in unserem realen wirtschaftlichen und politischen System keine. Das System funktioniert eben nun mal auf der Grundlage von Ausbeutung.

Unser Wohlstand ist deren Armut. Das trifft innerhalb eines Landes auf die Verteilungshierarchie zu, ebenso auf die Verhältnisse zwischen den Ländern. Da kann man zwar ein bisschen dran rumflickschustern, die soziale Marktwirtschaft z.B. ging in die Richtung, aber nachhaltig war bisher noch keiner dieser „Reparaturversuche“.

Berührt mich alles aber nicht, ich werde in wenigen Tagen auf dem Friedhof stehen und Beileidsbekundungen für meine Mutter entgegennehmen, dabei auch eine Menge von Leuten, die sich während des letzten Jahres nicht haben blicken lassen. Bigottes Heuchlerpack!


Blogeintrag 24. September 2015 "It’s All Over Now"

Heute Abend um 18 Uhr ist sie endgültig eingeschlafen. War erwartbar.

Ärztin hat den Tod festgestellt, Ute kam sofort vorbei und hat mir geholfen; Gemeindepfarrerin und Bestattungsunternehmen waren auch zeitnah da. Die Gemeindepfarrerin hat eine kleine Andacht mit Abschiedsworten gehalten (hätte meiner Mutter sicher gefallen) und dann haben sie sie in die Leichenhalle verbracht.

Jetzt ist das Haus leer, aber so was von leer, ich bekomme fast keine Luft, so leer.


Blogeintrag 2015-11-08 "Wie lange habe ich das schon nicht mehr gemacht"

Nachts/morgens um 3 Uhr am PC sitzen, laut Musik hören, sehr laut. Auf der Straße ist es nur gedämpft zu hören und die Nachbarn haben einen guten Schlaf. Ich muss nicht um eine bestimmte Uhrzeit aufstehen, muss mich auch um niemanden kümmern. Ich habe heute noch kein Geschirr gespült, das Bett ist seit Tagen ungemacht (macht nix, ich schlafe meistens auf der Couch im Wohnzimmer) und Wäsche waschen könnte ich allmählich auch mal, inzwischen ist ja genug zusammen, um die Maschine voll zu bekommen. Ich habe heute nichts getan, war nicht mal einkaufen. Ich lag 2 Stunden in der Badewanne, schlafend, mit kurzen Unterbrechungen, um heißes Wasser nachlaufen zu lassen.

Keine Rücksichtnahme mehr nötig, niemand mehr da, ich bin alleine im Haus.

Ein Jahr lang Pflege, rund um die Uhr, alleine, von den 20 Minuten am Tag abgesehen, wenn der Pflegedienst vorbeikam. Ein Jahr, in dem ich einen rigiden Zeitplan hatte, der absolut fremdbestimmt war, in dem ich nur funktionieren musste und scheinbar möchten jetzt alle möglichen Erkrankungen das letzte Jahr nachholen. Ein Jahr, in dem ich das Haus nur zu bestimmten Zeiten und dann auch nur max. 2-3 Stunden verlassen konnte, immerhin werde ich inzwischen nicht mehr unruhig, wenn ich länger als 2 Stunden aus dem Haus bin. Ich hab da inzwischen echt ein paar Phobien entwickelt. Ein Jahr, in dem es nicht um meine Lebensqualität ging, sondern um ihre. War aber meine Wahl, eine sehr bewusste Entscheidung. Der "Preis" dafür war mir, zumindest tendenziell, schon vorher klar. Wie "teuer" es wirklich werden würde, konnte ich halt nicht ahnen. Kein Mimimi.

Und jetzt, eigentlich mach ich so gut wie nichts! Ja, es gibt noch ein paar Formalien, bürokratischer Kram, den ich zu erledigen habe (Testamentsabwicklung, Kündigungen, Umschreibungen, Hausverkauf…), aber irgendwann, in eher naher als ferner Zukunft, wird auch das abgewickelt sein.

Beliebte Therapeuten/Mediatoren-Frage: was macht das mit dir? Ich weiß nicht, zu viel? Vieles von dem, was ich früher tat, ist mir unwichtig geworden. Vieles berührt mich einfach nicht mehr. Ich hab mich verloren und fühle mich zu erschöpft, zu müde, zu träge, um mich zu suchen.

Eine Metapher, eine Annäherung: Ich fühle mich wie ein alter Toyota Truck nach der Paris-Dakar, der niedrig tourig vor sich hin nagelt und egal in welche Richtung ich schaue, überall nur Wüste. Irgendwann sollte ich wieder Fahrt aufnehmen, aber ich hab absolut keine Ahnung, in welche Richtung. Nicht zu wissen, wohin die Reise geht, ist jetzt nicht der Teil, der mir Unbehagen bereitet. Das wusste ich in meinem Leben selten. Das bewegungslos im Leerlauf vor mich hin tuckern, heute schlimmer als in den ersten ein/zwei Wochen nach ihrem Tod, das beunruhigt mich mehr.

Natürlich sind da die Symptome einer Depression, auch wenn der Part mit „negative Stimmung und Gedanken“ so nicht zutreffend ist. Nur weil ich nicht Optimismus und Fröhlichkeit verbreite, weil Deutschland in den Krieg gegen sich selbst zieht, habe ich noch lange keine negativen Gedanken, also nicht mehr, wie auch früher üblich. Es gab, gibt und wird Dinge geben, die ich schon immer Scheiße fand. Ich bin kein Trauerkloß, der sich jetzt in eine Ecke verkriechen möchte. Mein mitunter grenzgängiger Humor ist auch nicht düsterer geworden… okay, er war auch schon immer ziemlich schwarz. Gegen Depressionen gibt es sicher was von Ratiopharm… hat meine Hausärztin auch schon mal angedeutet. Das wiederum ist nicht mein Ding. Da ich nicht suizidgefährdet bin, habe ich null Interesse daran, meine Stimmung von außen nivellieren zu lassen.

Sodele, das war jetzt genug Seelenstriptease und Unterhaltungswert für die anonyme, virtuelle Außenwelt.

PS: Ich bitte auf tröstende Mitleidsbekundungen zu verzichten, ich brauche keinen Trost und Mitleid schon gar nicht (ich fühle mich nicht leidend!).



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